Ernst Jüngers selbstverliebte Reise nach Brasilien

Kolibris und fliegende Fische

1936 begab sich Ernst Jünger auf eine zweimonatige Reise über die Azoren nach Brasilien. Die »Atlantische Fahrt« gestattet, durch die Augen eines selbstverliebten Autors zu blicken, der sich für die Schicksale anderer nicht interessierte.

Ernst Jünger hatte das Buch zwar geplant, verwirklicht wurde es jedoch erst im Frühjahr 2013, herausgegeben aus dem Nachlass: »Letzte Worte«. Über Jahre hat Jünger letzte Worte von mehr oder weniger Prominenten gesammelt. Ein eigenes »letztes Wort« von Jünger ist hingegen nicht überliefert, wohl aber, wie der Herausgeber Jörg Magenau in seinem Nachwort schreibt, ein scherzhaft geäußertes. Ernst Jünger habe in einer alkoholbeseelten Nacht, die er mit seinem »Sekretarius« Armin Mohler und seinen Freunden Gerhard Nebel, Ernst Klett und Erhart Kästner verbrachte, erklärt, sein letztes Wort wäre wahrscheinlich ein militärisch-knappes »Bitte vorbeitreten zu dürfen«.
Jüngers Koketterie in dieser Anekdote ist die nämliche, die sein Freund Kästner als Rezensent der Schwäbischen Landeszeitung 1948 in Jüngers Buch »Atlantische Fahrt« entdeckte. Er schrieb, Jüngers Sätze seien »beladen mit übermännlicher Eitelkeit, zuweilen mit unverkennbarer Koketterie. Gleichsam auf schlichtem Grunde sind sie ordengeschmückt, Stern bei Stern; es ist wohl der sich am innigsten selbst genießende Stil, den die große deutsche Prosa besitzt: ein Hahnenkleid von einem Stil. Ein Zug von Prahlerei verleugnet sich nicht.«
Ernst Jüngers Buch »Atlantische Fahrt« erschien erstmals 1947, und sein Erscheinen ist ein Kuriosum. Denn einerseits hatte Jünger zu dieser Zeit in der britischen Besatzungszone, in der er wohnte, Publikationsverbot, andererseits erschien sein Buch in der Reihe »Zaunkönig-Bücher« der »Kriegsgefangenenhilfe des Weltbundes der Christlichen Vereine Junger Männer in England«. Und die Bücher dieser Reihe wurden ausschließlich an deutsche Kriegs­gefangene in den Gefangenenlagern der Alliierten verteilt. Aufgrund dieses merkwürdigen Publikationsortes wurde das schmale Büchlein nur wenig wahrgenommen, und obschon es später mehrere Auflagen erlebte und in beide Jünger-Werkausgaben integriert wurde, ist es selbst unter Jünger-Fans kaum bekannt. Dabei ist der Text durchaus symptomatisch für Jüngers Werk.
Jünger hatte sich 1936 an Bord des Dampfers Monte Rosa begeben und war von Hamburg aus über die Azoren nach Brasilien geschippert, hatte dort etwa den Amazonas und Rio de Janeiro besucht und war dann über die Kanarischen Inseln und Casablanca nach Hamburg zurückgekehrt. Auf der rund zweimonatigen Reise führte er Tagebuch, diese Tagebücher bildeten die Grundlage für die »Atlantische Fahrt«. In der nun erschienenen Neuausgabe werden die Texte ergänzt durch Briefe des Autors an seinen Bruder Friedrich Georg Jünger, die von der Reise aus verschickt worden sind, sowie durch Briefe, mit denen Mitreisende und Leser auf den Text reagierten. Außerdem hat der Herausgeber Detlev Schöttker noch ein umfangreiches Nachwort beigesteuert, so dass man schon von einer kritischen Ausgabe sprechen kann. Durch Schöttker erfährt man, dass sich in Jüngers ursprünglichen Reisetagebüchern weit weniger Hinweise auf die kommenden »drohenden Zeiten, die sich immer deutlicher ankündigen« finden lassen als im Buch. Der Autor hat sich folglich nachträglich zum Seher gemacht.
Ansonsten enthält das Buch jene Stilblüten, Spreizungen und unschönen Übertreibungen, die Ernst Jüngers Texte immer unerträglich machen, etwa wenn er schreibt: »Der Vorgang hatte etwas Graziöses, doch Bösartiges zugleich – fast wie ein Lustraub oder eine jähe Schwängerung.« Aber warum veröffentlichte Jünger dieses Tagebuch? Erhart Kästner fragt sich dies in der Schwäbischen Landeszeitung ebenso, glaubt aber schließlich, trotz der von ihm aufgelisteten Mängel, dass Jüngers Sprache die Publikation rechtfertige. Kästner ist fasziniert.
Doch fasziniert ihn wirklich die Sprache? Das, worüber Jünger spricht, ist nicht so schlicht, wie Kästner behauptet. Jünger bringt seinen Lesern in einer Welt ohne Fernseher die Ferne nahe. Er erzählt von der Stadt Rio – »eine Residenz des Weltgeistes« –, von Kolibris und fliegenden Fischen, von Eingeborenen und Kolonialisten, er bietet Reiseliteratur für armchair traveller. Oder eben für Kriegsgefangene, die dem Lageralltag entfliehen wollten.
Doch etwas ist merkwürdig an Jüngers Schilderungen. Jünger gibt Bilder wieder, die er ­
so nicht wahrgenommen haben kann, er beschreibt, obwohl er ihn nur für die »Dauer ­eines Wimpernschlags« gesehen haben will, einen Kolibri sehr genau, er mutmaßt, welche Haltung mit der Sklaverei (deren Ende er begrüßt) untergegangen sein könnte, und spe­kuliert wild über die zukünftige Rolle Brasiliens in der Welt. Ein Mitfahrer kehrt nicht wieder zurück an Bord, wie so viele andere, er emigriert, Jünger lässt es dabei bewenden und schweigt – obgleich er doch seinen Text nach 1945 korrigiert hat – zu den Gründen. Offenkundig sind dem Autor die Schicksale der anderen egal. So auch die Schicksale der Nicht­weißen. Jünger beschreibt Männer mit nackten Oberkörpern mit Wohlgefallen, er gesteht Bra­silien zu, sich »in Dingen der Menschenwürde« positiv zu entwickeln, und ist dennoch so ­rassistisch wie der Zeitgeist.
Und so sieht er Vögel, Brasilianer, Deutsche und Prostituierte mit denselben Augen, von außen, unbeteiligt, er ist ein Einzelgänger, selbstverständlich ein ganz besonderer. Denn alles, was Jünger erblickt, wird unter seinen Augen und in seiner Schreibe zur Kunst. So jedenfalls geriert sich dieser Narziss, der, gottgleich, mit seiner Beschreibung noch einmal erschaffen haben will, was er vorgefunden hat. Und daran sollen sich seine Leser ergötzen. Sie dürfen durch seine Worte mit seinen Augen schauen, Erhabenes sehen, Dinge, Zusammenhänge, die sie nicht sehen könnten. Über Bra­silien und die anderen Reiseziele erfährt man dabei wenig, Jünger reiht Einzelbeobachtungen aneinander, die kein Gesamtbild entstehen lassen. Seine Leser sollen sich zufrieden geben, auch wenn er nur Brocken hinwirft wie etwa diesen: »Mein Glücksstern gönnte mir einige schöne Stunden in diesen Wäldern, während deren ich vieles lernte, vieles sah.« Was er lernte, was er sah, bleibt sein Geheimnis. Wie es auch ein Geheimnis bleibt, warum Jünger wegen solcher Sätze bis heute als besonders großer Geist gehandelt wird.

Ernst Jünger: Letzte Worte. Hrsg. von Jörg Magenau. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2013. 246 Seiten, 22,95 Euro
Ernst Jünger: Atlantische Fahrt. Hrsg. von Detlev Schöttker. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2013. 208 Seiten, 19,95 Euro