Revolutionäre Realpolitk

Revolutionäre Realpolitik

Die Alternative »Communismus oder Barbarei« macht eine neue Psychogeographie dringlich.

Man hatte sie erhofft, vielleicht sogar erwartet, jene Revolten gegen religiös diktierte Beschränkungen jeglicher freier Gesten im Alltagsleben: bereits 2009 im Iran und derzeit auch in Tunesien und Ägypten, insbesondere aber in der Türkei. Statt mindestens drei Kindern »mindestens drei Bier« nahm ein in Hamburg verteiltes Flugblatt die Sehnsucht nach einem Leben jenseits von Moschee und Kaserne auf. Im Übernehmen der türkischen Parole kam die Freude darüber zum Ausdruck, dass sich nicht alle der grünen Betonierung des Alltagslebens unterwerfen lassen würden, wo doch Deutsch-Europa wie die USA das »Modell Erdogan« zum Höchstmaß erlaubter Freiheiten für den als islamisch definierten Teil der Welt erklärt haben. Tatsächlich zeigen sich nicht nur für emanzipatorische Bestrebungen zusätzliche Grenzen und Möglichkeiten in Gesellschaften unter islamischer Dominanz.
Rainer Trampert hat als Kriterien für das »Prädikat ›Frühling‹« unter anderem Gleichberechtigung von Frauen und Mädchen, unbedrängte Sexualität, Auflösung religiöser Bindungen und Vertreibung des Antisemitismus benannt (Jungle World 31/13). Um aus dem vorherrschenden geschichtsdeterministischen Teufelskreis Spenglerscher Zyklen auszubrechen, sollte die konkrete Besonderheit der jeweiligen regionalen Revolutionsschübe erforscht werden, in denen die wirk­liche Bewegung der Aufhebung des Bestehenden global erscheint. Um damit zu beginnen, können wir hier nur auf jenen Typ theoretischer Praxis verweisen, den die Situationisten seinerzeit als »Psychogeographie« bezeichnet haben.
Nicht erst seit den vergangenen zwei bis vier Jahren muss es den emanzipatorischen Kräften in den »aufbrechenden« Ländern so scheinen, als ob es hinsichtlich des subjektiven Faktors nichts außerhalb der eigenen – schwachen – Kräfte gäbe, worauf sie wirklich zählen können. Dass die manifeste Erscheinungsform der Umwälzung in der arabischen Welt seit langem eine permanente politische Revolution ist, deutet unweigerlich hin auf die ihr latent zugrundeliegende soziale als Triebkraft, wovon die jetzt seit längerem sich ausbreitenden Streikwellen zeugen. Doch attentistisch nur darauf zu »setzen«, wäre schlichter ökonomistischer Objektivismus.
Erahnen lässt sich bei psychogeographischer Kartographie der objektiven und subjektiven Momente, was für ein grausamer Bürgerkrieg dort seit der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in wechselnder Intensität geführt wird – was leicht übersehen wird, wenn man die Welt politökonomisch schematisiert: der Kampf regressiver Bedürfnisse gegen die modernen, durchaus auch von den Weltmarktbildern geweckten Wünsche und Begierden nach einem unbeschränkten freien Leben als pursuit of happiness und nach weltgesellschaftlicher Individualität. Diesen Konflikt nicht mehr zu verdrängen, endlich im Parteibildungsprozess für eine Klasse des Bewusstseins kenntlich aufzutreten und nicht zwischen Staatsapparaten und faschistischen Rackets zerrieben zu werden, scheint ein gewaltiges Problem zu sein. Es auch künftig zu keiner kenntlichen Blockbildung gegen diese bestehende Gesamtmisere kommen zu lassen, daran arbeiten die modern ausgerüsteten Archaismen Iran und Saudi-Arabien mit allen Mitteln.
Wenn Ernst Lohoff (Jungle World 32/13) zu Recht wieder die Frage aufwirft, wie Brot und Freiheit zusammengehen – der Stoßseufzer »Gnade uns Gott, wenn die Revolutionäre für Brot sorgen müssen« findet sich bereits bei Marx und Engels –, dann wäre diese im Sinne einer notwendigen »revolutionären Realpolitik« (Lukács) zu ergänzen, wie dies mit dem Kampf gegen die Feinde einer emanzipierten Gesellschaft zusammengehen soll. Zumal wenn man – anders als die pseudorevolutionären Trümmerhaufen nationalistischer oder stalinistischer Provenienz mit ihrem Märtyrerkult – das Leben liebt und nicht den Tod; und wenn man nicht so werden will wie seine Feinde.

Auch die von Walter Benjamin genannten »feinen und spirituellen Dinge« in den Klassenkämpfen, wie Zuversicht, Mut, Humor, List und Unentwegtheit, wären zu mobilisieren für jene Subversion, die über die existierende alltägliche Wühlarbeit des Weltmarktes hinaus die verrotteten Fundamente der asiatischen Despotie untergraben und sie endgültig wegschaffen will. Insbesondere ist es der Antisemitismus, die zentrale antikapitalistisch-konterrevolutionäre Alltagsreligion, der permanent radikal zu bekämpfen ist – handelt es sich bei dieser pathischen Projektion doch um die Abwehr des Realitätsprinzips und des nüchternen, defetischisierenden Blicks auf die gesellschaftlichen Verhältnisse.
»Die kommenden Revolutionen finden nur dann in der Welt Hilfe, wenn sie die Welt in ihrer Totalität in Angriff nehmen«, befand 1965 die Situationistische Internationale (SI) in ihrer »Adresse an die Revolutionäre Algeriens und aller Länder«, die nach heutigem communistischen Anspruch in ihrer Haltung zu Israel unzureichend ist. Es werde »immer augenscheinlicher, dass (…) mit dem Islam Schluss zu machen« sei. Das war in einer Zeit, als die Welt noch in der konterrevolutionären Scheinalternative von staatssozialistischen Bürokratien und consumer capitalism einbetoniert war. Doch Haarrisse, welche diese Konstellation in den Folgejahren kurzzeitig erfahren sollte, zeichneten sich für revolutionäre Elemente bereits seit den fünfziger Jahren ab. Die negative Seite jener in ihrem spektakulären Schein sich bewundernden wirklich falschen Gesellschaft der totalitären Warenproduktion erneut aufzufinden, ihr eine Sprache der bestimmten Negation und Techniken revolutionärer Aneignung mitzugeben, sollte es ermöglichen, die communistische Revolution »neu zu erfinden«.

Hierzu bedurfte es allererst einer Kritik der damals vorherrschenden Bilder von Revolution, musste im Kampf gegen deren Rekuperation zurück zu Marx und Rimbaud gegangen werden: »Il faut être absolument moderne.« Denn die im Bestehenden sich entwickelnden und über es hinausweisenden emanzipatorischen Bedürfnisse seismographisch wahrzunehmen, zu untersuchen und in einer Weiterführung der Kritik der politischen Ökonomie wie des Alltagslebens ­begrifflich und zugleich als sinnliche Erkenntnis psycho-ästhetisch zu fassen, darin lässt sich die Praxis der Theorie jener international agierenden Assoziation zusammenfassen, die 1968 für einen Moment in Theorie der Praxis umschlug.
Wie progressiv oder regressiv die Revolten der jüngsten Zeit im Einzelnen zu bewerten sind, darüber wurde an dieser Stelle in den letzten Wochen bereits einiges geschrieben. Was zu Recht moniert wurde, war das Fehlen einer kohärenten Kritik, denn ohne diese ist nicht zu haben, worauf es ankommt: umfassende Subversion jedes abgetrennten Aspekts der gesellschaftlichen Reproduktionstotalität. Anstatt auf die ewige Wiederkehr der Jahreszeiten zu warten, bedeutet das revolutionäre savoir attendre, selbsttätig die Besonderheiten und Ungleichmäßigkeiten zu erforschen, in einer Weltmarktanalyse der verschiedenen Kapitalgruppen auf dem einen Pol, als Psychogeographie der Neuzusammensetzung der globalen Gesamt-Lohnarbeiterklasse auf dem Gegenpol. Erst das würde heißen, »die Kritik der politischen Ökonomie wiederaufzunehmen« und die mit der heutigen kapitalistischen Warenproduktion einhergehende spektakuläre Bilderwelt der überkommenen Mythen »der Revolution« und der bornierten Vorstellung des »Aktivismus« zu sprengen.
All das verweist kritisch auf die erwähnten Bemühungen, sich global zu einer »Klasse des Bewusstseins« zu entwickeln, als Teil jener wirklichen Bewegung, die den gegenwärtigen Zustand »aufhebt«.
Die belehrte Hoffnung heute weiß um die Gefahr in der sozialen Wut. So verweist beispielsweise der Angriff auf die israelische Botschaft in Kairo auf den festsitzenden Antisemitismus als gesellschaftlichen Kitt. Demgegenüber muss der analytische Blick auf die enormen radikalen Bedürfnisse, jene Begierden gehen, die sich auf Basis des durchgesetzten Weltmarkts universalistisch diffus als latentes revolutionäres Begehren überall herausbilden. Dass sie blockiert und gestaut werden (durch Ideologie bzw. »Sachzwänge«), macht die Ambivalenz in ihren Manifestationen aus. Wir können hier nur alles auf die Entwicklungspotentiale der gesellschaftlichen Individuen setzen. Dieser gewahr zu werden und nicht in Regression abzugleiten, bedingt Reflexion und Kritik – indem letztere sich selbst organisiert, wird »Öl dahin gebracht«, »wo Feuer war« (SI). So wie sich bereits die Mitglieder der 1. Internationale auf den Weltausstellungen trafen, um in Augenschein zu nehmen, was das ihre sein sollte, so setzen die modernen Möglichkeiten die Mindeststandards für die Formen der Assoziation aus der Lohnsklaverei heraus. Von der IAA der Epoche von Bakunin und Marx über die SI bis in die globale Situation der Jetztzeit hinein bleibt realpolitisch für alle Theorie- und Praxis-Organisierung unabgegolten »der Klassenkampf als Schluss, worin sich die Bewegung und Auflösung der ganzen Scheiße auflöst« (Marx).
Der Schluss dieses Schlusses ist erste Grundlage aller Kämpfe gegen das ausbeutende Eigentum: die Kampfansage gegen die Verfügung der Gemeinschaft über den weiblichen Körper.