Kreative gehören in New York City zu den Opfern der Gentrifizierung

Wie Berlin, nur anders

In Williamsburg, einem der angesagtesten Stadtteile New York Citys, gibt es immer weniger bezahlbaren Wohnraum. Anders als in Berlin sind dort die sogenannten Kreativen nicht die Gentrifizierer, sondern die Opfer einer Mietpolitik, die fast ausschließlich vom freien Markt bestimmt wird. Viele Künstler werden aus der aufgewerteten Gegend verdrängt. Ein Besuch beim historischen Projekt BPM in der Kent Avenue 237.

Am Ufer des East River in Williamsburg, dem hippen und kreativen Teil Brooklyns, kann man noch ungehindert die Skyline von Manhattan betrachten. Eine Parallelstraße weiter sitzt Takuya Nakamura, genannt »Tak«, auf dem Dach eines garagenartigen Gebäudes. Zum ersten Mal in diesem Jahr scheint die Sonne so warm, dass man den Teer riechen kann. Vom Innenhof des Nachbarhauses ragt ein Kirschbaum herüber, der gerade anfängt zu blühen. Der Frühlingsbeginn hat für Tak etwas Melancholisches. Denn dieses Haus wird es bald nicht mehr geben. Tak und seine Freunde müssen in wenigen Wochen hier raus.
15 Jahre lang hat Tak in diesem schlauchartigen, eingeschossigen Gebäude in der Kent Avenue 237 mit seiner Band Musik gemacht und mit vielen anderen Künstlerinnen und Künstlern gearbeitet. Hier in Williamsburg sind er und seine Freunde damals gestrandet, als sie aus dem überfüllten und immer teurer werdenden Manhattan auf der Suche nach etwas Ruhe die andere Uferseite für sich erschlossen.
Wie die meisten Ankömmlinge waren sie erst einmal in der Lower East Side gelandet, unweit von Andy Warhols »Factory« im East Village, dem alternativen Zentrum im Manhattan der siebziger und achtziger Jahre. Künstlerinnen und Künstler aus allen Ländern und Richtungen lebten und arbeiteten damals zwischen der Wassergrenze und der Fifth Avenue. Was hinter der letzten Straße jenseits des Ufers sonst existierte, nahm man nicht zur Kenntnis. Noch verband man mit dem gegenüberliegenden Ortsteil Williamsburg hässliche Industriestraßen, Kriminalität und Prostitution.
So war es auch für Tak, Yoshio, Saturo und Tada, die damals, alle um die 20 Jahre alt, Japan verließen und wie viele andere dem Ruf dieser Stadt gefolgt waren.
Ohne sich vorher zu kennen, war ihnen ihre eigene Insel zu langweilig geworden, sie bot ihnen keine Aussicht auf künstlerische Entfaltung. »Extravagante hatten in Japan kein schönes Leben«, sagt Tak. Die fünf Freunde stammen allesamt aus Familien mit großer Affinität zur Musik – die Väter zweier von ihnen waren Opernsänger. Als Teenager spürten sie jedoch in ihrem Land die Begrenztheit ihrer Möglichkeiten mit jedem Jahr deutlicher. Letztlich verließen sie Japan und gingen nach New York mit der Absicht, Außerordentliches zu erleben. Beim Tanzen auf den Partyfluren New Yorks begegneten sie sich dann Ende der achtziger Jahre.

Knapp zehn Jahre später wurde es auch in Manhattan eng. Für die Künstlerinnen und Künstler des East Village wurden die steigenden Mietpreise ein immer größeres Problem, und das andere Ufer des East River schien plötzlich näher zu liegen.
Auf der Suche nach einem bezahlbaren Free-Art-Space, also einem Raum, in dem sie sich auf ihre Musik und ihre Kunst konzentrieren konnten, schlossen sich Tak, Yoshio und ein paar andere Übersiedler zusammen. In der Kent Avenue 237 eröffnete sich ihnen dann die Chance. Mit der Absicht, dort coole House-Partys zu organisieren, bauten die damaligen Twens das Gebäude aus und um. Das Projekt nannten sie BPM, das steht für beats per minute. Viele Musiker, die in der von nun an stetig größer werdenden Künstler-Community auf der anderen Flussseite ankamen, wurden eingeladen, im BPM aufzutreten. Die berühmte Indierock-Band »TV-on-the-radio« bekam hier ihren ersten Gig. Im BPM gab es auch Tanz- und Theateraufführungen. Das mehrfach ausgezeichnete Musical »Fela!« über das Leben der Afrobeat-Legende Fela Kuti wurde hier geschrieben. Sämtliche Musikrichtungen waren in dem Flachbau zu hören. Ob Noise, Dub, Reggae, Drum ’n’ Bass und Punkrock. Hier kreuzten sich die Stile und formierten sich neu. Der Ort wurde zu einem Treffpunkt für viele Japaner aus New York und weitere Neugierige, die experimentelle Elektromusik hören und machen wollten. In Brooklyn mehr oder minder gestrandete Nobodys ließen sich hier nieder.
Nicht zuletzt hat es auch die Gründer der BPM-Studios gereizt, eine eigene Band zu gründen. So entstand vor knapp 15 Jahren die Band Marianne. Ihre Musik ist im wörtlichen Sinne hausgemacht, denn alle ihre Shows, die Songs und die Aufnahmen entstanden im Studio des BPM.
Damals war Taks dickes Haar an den Schläfen noch nicht weiß. An seiner Haut sind heute die Anstrengungen von 20 Tourneejahren sichtbar, aber ein offenes Lächeln hat sich in sein Gesicht eingeprägt. Die Liste von Taks Kooperationen mit anderen Künstlern reicht von heutzutage international bekannten Bands wie The Streets bis hin zu der unsterblichen Legende Quincy Jones. Als Trompeter und Pianist, der zudem unzählige elektronische Instrumente beherrscht, ist Tak Teil von derzeit vier verschiedenen Bands. Mit wöchentlichen Engagements in den Musikbars von Manhattan und Brooklyn finanziert er sein gegenwärtig sehr bescheidenes Leben.
Über die ganzen Jahre diente ihm die Kent 237 dabei als Proberaum, Aufnahmestudio, Bühne, Atelier und mit ihrer Kammer in der niedrigen Zwischenetage auch als Zuflucht, während er in Scheidung lebte.

Die allerersten Bewohner in diesen Wänden waren um 1880 die Erbauer Manhattans. Als New York noch sumpfiges Brachland war, errichteten diese überwiegend aus Deutschland stammenden Bauarbeiter hier in Williamsburg ihre Quartiere. Mittlerweile steht das kleine tunnelartige Haus als das letzte seiner Art in diesem Block und wird links und rechts von den hochwachsenden Anrainern bedrängt. Es wird auch nicht mehr lange dauern, bis neue Häuserwände gänzlich das Ufer verdecken.
Diese Promenade ist inzwischen so beliebt geworden, dass solventere Mieter nachrücken. In unmittelbarer Nachbarschaft wohnen hier jetzt Kino- und Musikstars wie Christina Ricci, Peaches Geldof, Winona Ryder, Barbara Streisand und Woodkid.
Dieser Welle stellt sich auch der Verwalter der Kent 237 nicht entgegen. Sogenannte developer haben auch dieses Gebäude aufgekauft. Der kalkulierte Gewinn könnte nicht sicherer sein. Deshalb müssen die Künstlerinnen und Künstler der BPM-Gruppe ihre Bühne räumen, auch wenn sie soeben in einem Gespräch mit dem Vermieter ihren Auszug um zwei weitere Monate verschieben konnten. Es klingt für sie traumhaft, wenn sie von Berichten aus Berlin hören, dass es ehemaligen Hausbesetzern gelungen ist, ihre Immobilien zu erwerben.
Nicht nur einmal fällt der Ausdruck »brutal«, als es im Gespräch um Mietpolitik in New York City geht. Unter die Mietstabilitätsklauseln der New Yorker Stadtverwaltung fallen nur Wohnungen, die mindestens seit 1971 durchgehend bewohnt wurden, oder Gebäude, die mindestens sechs Mietparteien beheimaten. Alles andere bleibt dem freien Markt überlassen, mit den Folgen, die auch in vielen anderen Weltstädten bekannt sind. Der Wohnraum wird immer teurer, die soziale Zusammensetzung bestimmter Stadtviertel verändert sich, reiche Mieter kommen rein, wer nicht zahlen kann, muss gehen.
Seit den achtziger Jahren haben sich die Mieten für Saturo, Tak und seine Künstlerfreunde verzehnfacht. Allein in den vergangenen fünf Jahren haben sie sich in Williamsburg verdoppelt.
Ein Ende der Ausweitung dieser attraktiven Gegend ist nicht absehbar. Nicht auszuschließen ist zudem auch ein interner Kulturkampf in Williamsburg. Denn hier leben zudem die größte Gemeinde orthodoxer chassidischer Juden mit der höchsten Geburtenrate des Landes und die große Gemeinde von Puertoricanern, die ebenfalls vor der Ankunft der jungen Kreativen ihren Platz hier für sich beanspruchten.
Christian, ein Künstler aus Oregon, war in den vergangenen fünf Jahren Mieter in der Kent 237. Das Garagentor seines Ateliers ist tagsüber der Eingang zum Haus. Nachts gibt es nur eine kleine leicht zu übersehende Metalltür. Christian sägt, schweißt und sprüht überdimensionale Dollarnoten. Statt darauf einen ehemaligen US-Präsidenten wiederzuerkennen, schaut man in ein Gasmaskengesicht. Seine Dollar-Kunst konnte ihm bisher noch nicht dazu verhelfen, seine finanzielle Situation zu stabilisieren. Echtes Geld verdient er mit anderen handwerklichen Tätigkeiten.
Wenn es nach ihm ginge, würde er gerne weiterhin mit den Jungs der BPM in einem Haus arbeiten. Im Zusammenhang mit deren Musik sind auch viele seiner Werke entstanden.
Absehbar ist, dass der größte Teil derjenigen Kunstschaffenden, die in prekären Arbeits- und Wohnverhältnissen leben müssen, weiter Richtung Osten ziehen wird. Noch hinter East-Williamsburg scheint Bushwick das derzeit beste Verhältnis zwischen Wohnkosten und Kreativraum anzubieten.
Trotzdem zieht Christian bei seiner Ateliersuche sogar Red Hook in Erwägung. Im Südwesten Brooklyns, wo die Schäden durch den Wirbelsturm »Sandy« im Herbst 2012 groß waren, weil die Flut beinahe ungebremst gegen die Türen und Tore der Erdgeschosse schlug. Hier sind die Mietpreise für Ateliers besonders günstig.
Christian hat mit dem Eigentümer schon vereinbart, dass er die von ihm selbst eingebaute Garagentür wieder mitnehmen darf. »Sie wird ja sowieso bald durch ein Schaufenster oder einen Restauranteingang ersetzt werden«, weiß er schon jetzt.

Am Wochenende gab es im Haus ein Abschiedskonzert für Saturo Ito. Nach fast 20 Jahren in Brooklyn wird der mittlerweile 51jährige Gitarrist zusammen mit seiner Ehefrau zurück nach Japan gehen. Sie haben keine Kinder. Ihre Eltern sind sehr alt und brauchen Pflege. Tak meint, Saturo gehe da einen Kompromiss mit seiner Frau ein. Es könnte aber auch der Mangel an Alternativen sein. Die Österreicherin Dorit Chrysler ist eine international bekannte Thereminspielerin und kommt speziell, um an diesem Abend für Saturo im Vorprogramm zu spielen. 1987 hat sie Saturo beim Kellnern in Manhattan kennengelernt. Heute werden ihre Aufnahmen vom weltweit bekannten Techno- und House-Produzenten Trentemøller produziert. Dorits Instrument, mit dem sie per Handbewegung ohne Berührung elektronische Klänge innerhalb eines 90-Grad-Winkels aus Metall erzeugt, ist der Vorgänger des Synthesizers. Mit diesen surrealen Tönen entführt sie ihre Zuhörer in einen Schwebezustand, in eine Parallelwelt der Achtziger.
Dann kommt Marianne mit ihrem »Japo-Space-Rock« auf die Bühne. Um 3 Uhr morgens zeigen die strahlenden Gesichter der Gäste, dass sie einer einzigartigen Zeremonie beigewohnt haben. Dase BPM hat in dieser Nacht ein geliebtes Familienmitglied verabschiedet.
Das Studio und die Freunde müssen nun zugunsten von Menschen weichen, die das Geldverdienen besser verstanden haben: Start-up-Gründer und junge Unternehmer, die es woanders vielleicht schon geschafft haben und sich in New York noch beweisen möchten.
Bis zum Auszug wird es im BPM noch jeden Freitag Musikveranstaltungen geben. Den ganzen Sommer über wird Tak wieder auf Tour gehen, diesmal mit der international bekannten Band Coco Rosie, die der Multi-Instrumentalist nun zwei Monate lang durch Europa begleiten wird.
Ob es die BPM-Gemeinschaft bei seiner Rückkehr noch geben wird, weiß Tak nicht. Der Drummer Tadayuki Hirano, der das BPM als community of other music bezeichnet, meint, die Situation sei in New York einfach »zu verrückt«, um darauf zu hoffen. Im Unterschied zur Hoffnung, einen neuen bezahlbaren Raum für Musik und Kunst zu finden, sei es aber vergleichsweise einfach, die regelmäßigen Spenden-Konzerte des angegliederten Vereins »New York for Japan« an neuen Orten aufrechtzuerhalten, mit denen unter anderem schon den Opfern der Atomkatastrophe von Fukushima in Japan geholfen werden konnte.
Müdigkeit überschattet Taks zufriedenes Gesicht.
Wie lange die Häuserwände von Williamsburg noch die farbenfrohen Verzierungen ihrer Bewohner behalten dürfen, wird davon abhängen, wie schnell die glatten, gläsernen Fassaden auch diese Uferseite erobern werden.