Der König von Buxtehude

Berlin Beatet Bestes. Folge 196. Die Toten Hosen: Reisefieber/Niemandsland (1983).

Vor 30 Jahren ging ich nach der Schule regelmäßig in ein Elektrogeschäft in Buxtehude, das eine kleine Schallplattenabteilung hatte, um mir dort Platten anzuhören. Von dieser Single war ich sofort begeistert: »Niemandsland« ist pure Tramp-Romantik und »Reisefieber« eine Art »Nordsee ist Mordsee«-Suizidphantasie. Die düster-aggressiven Songs, die sich noch deutlich vom Fun-Punk unterscheiden, mit dem die Toten Hosen wenig später populär wurden, korrespondierten mit meinen melancholischen Teenager-Emotionen. Der Name war auch cool. Alles Mögliche war damals »tote Hose«; meine Dorfexistenz schien damit treffend beschrieben zu sein.
Dass eine Band mit solch einem Namen einmal zu den wichtigsten deutschen Rockbands gehören würde, hätte ich damals allerdings nicht für möglich gehalten. Was hat sich seitdem sonst noch verändert? Hat sich irgendwas verändert? Ist die Welt besser oder schlechter geworden? Es gab die DDR noch, Helmut Kohl und Ronald Reagan regierten, und ich musste noch in die Schule gehen und bei meinen Eltern wohnen. Okay, das ist besser geworden. Vor 30 Jahren gab es auch noch keine iPhones, kein Internet, keine MP3 und kein Rauchverbot. Ist das besser?
Vor 30 Jahren war Deutschland für mich ein Niemandsland. Das Niemandsland der blonden Barbaren, der ehem­aligen Nazis. Als Kind wusste ich genau, dass uns das Ausland so sah. 30 Jahre Zuwanderung haben Deutschland verändert. Das ist besser geworden. Aber ich persönlich habe nicht das Gefühl, ich hätte mich stark verändert. Ich betrachte die Welt immer noch aus der Perspektive desjenigen, der in der Raucherecke steht. Obwohl ich nicht mehr rauche und auch damals nicht rauchte. In der Raucherecke trafen sich die coolen Typen: der Mod, der Punk, die drei New-Wave-Mädchen und 15 Ökos. Hier wurden alle maßgeb­lichen Informationen ausgetauscht: Hast du gestern »Formel eins« gesehen? Hast du John Peel gehört? Hast du die neue Scheibe von King Kurt? Hier hatte ich auch zum ersten Mal Berührung mit Vegetarismus und Anarcho-Punk, hier verabredete ich mich zur Anti-AKW-Demo.
Noch wichtiger, als zu unserem kleinen Kreis zu gehören, war allerdings der Blick auf den Rest des Schulhofs, auf die erdrückend langweilige Mehrheit der Schüler. An dieser Sichtweise hat sich nichts geändert, weil sich auch an den Verhältnissen nicht viel geändert hat. Natürlich habe ich seitdem sehr viele interessante Menschen kennengelernt, aber im Verhältnis zur Mehrheit haben die sich nicht vermehrt. Die Wenigen sind in den vergangenen 30 Jahren nicht nennenswert mehr geworden. Eine Raucherecke gibt es sicher nicht mehr an der Schule in Buxtehude. Aber wo treffen sich dann heute die Freaks?

Dazu singen die Toten Hosen:
Ich bin der Penner vom Straßenrand, / niemand hat mich bis jetzt erkannt. / Ich bin der König aus dem Niemandsland, / in der grünen Minna Richtung Stadtrand. / Trotzdem sitz’ ich gleich wieder auf meiner Bank / mit meinen Zwei-Liter-Zepter in der Hand.