Der Hype um Angela Merkels DDR-Jugend

Die Merkel und der Makel

Es verspricht große Enthüllungen und erzählt nur, was alle wissen. »Das erste Leben der Angela M.« wird zum Bestseller und alle reden mit.

Steckt die Kanzlerin in der Klemme? »Ich hab’ nie irgendwas verheimlicht«, sagte sie kürzlich in einem Pressegespräch. »Wenn sich jetzt was anderes ergibt, kann ich damit auch leben«, fügte sie hinzu. Man kennt diese Sätze. Normalerweise hört man sie aus dem Munde einer hochrangigen Politikerin oder eines bekannten Amtsträgers, wenn etwas faul ist. Ist bei Angela Merkel also etwas faul? Hat sie die Öffentlichkeit belogen, etwa in der CDU-Parteispendenaffäre, hat sie Geld veruntreut, hat sie missliebige Konkurrenten erpresst?
Nichts dergleichen. Es ist viel schlimmer: Angela Merkel ist in der DDR aufgewachsen. Das haben Ralf Georg Reuth und Günther Lachmann enthüllt und ganz Deutschland diskutiert darüber. Das Buch der beiden, »Das erste Leben der Angela M.«, ist bereits ein Bestseller. Nun werden einige sich erstaunt die Augen reiben und fragen, was daran eine Enthüllung sein könnte. Jeder weiß, dass Angela Merkel in der FDJ war, ja, dass sie sogar Leitungsaufgaben übernommen hatte. Das alles findet sich auch in ihrer offiziellen Biographie. Warum also die Aufregung?
Reuth und Lachmann wissen selbstredend, dass all diese Fakten bekannt sind. Doch sie haben eine Arbeitsweise entwickelt, mit der sie den Fakten, so sagen sie, ganz neue Erkenntnisse abringen. In der Einleitung zu ihrem mehr als 300seitigen Werk, das rund 40 Seiten Fußnoten hat, beschreiben sie in ungelenkem Deutsch ihre Vorgehensweise: »Erst die Integration aller zusammengetragenen Informationen in den zeitgeschichtlichen Rahmen ermöglicht einen unverstellten Blick auf das erste Leben der Angela Merkel. Denn nur, wer die Kirchenpolitik des SED-Staats und die Methoden, mit denen sie durchgesetzt wurde, kennt, wird die Rolle ihres Vaters und damit auch ihre Stellung in der Schule begreifen können. Nur wer weiß, was 1981 in Polen geschah, wird Angela Merkels Äußerungen deuten können. Und nur wer weiß, wie die Wende in der DDR in den Jahren 1989/90 zustande kam, und welche dabei die entscheidenden Kräfte waren, wird die damalige Angela Merkel politisch verorten können. In dieser Methodik der Schilderung, die manchmal die Hauptperson verlässt und Zeitgeschichte erzählt, wie sie so in Teilen noch nicht erzählt worden ist, liegt der besondere Ansatz dieses Buches.«
Nun gehört eigentlich zum Handwerk von Biographen, dass sie stets auch die zeitgeschichtlichen Umstände mit im Blick haben, denn die Gesellschaft formt bekanntlich den Menschen. Doch für Reuth und Lachmann ist dies offenkundig neu. Was zumindest im Falle Reuths verwundert. Hat sich Lachmann bislang vor allem als Kämpfer gegen radikale Muslime hervorgetan, ist Reuth, der als Chefkorrespondent der Bild-Zeitung arbeitet, ein bekannter Historiker, der Biographien über Hitler, Rommel und Goebbels verfasst und zudem die Tagebücher des letzteren herausgegeben hat.
Warum also so viel Wirbel um eine übliche Methodik? Es ist schon auffällig, dass die beiden sehr viel Zeitgeschichte aufarbeiten – oder besser: die Biographien anderer Personen. Denn das, was sie über Merkel herausgefunden haben, ist trotz intensiver Recherche nicht spektakulär.
Also: Horst Kasner zog 1954 als Pfarrer von Hamburg in die DDR, seine Frau und seine Tochter Angela, die gerade in Hamburg geboren worden war, folgten ihm bald. Kasner entwickelte sich spätestens in Templin, wo er ab 1957 beruflich aufsteigen konnte, zu einer wichtigen Person in der evangelischen Kirche der DDR und war dem »demokratischen Sozialismus« nicht abhold. Er redete mit Vertretern der SED, verlieh aber auch systemkritische Literatur und galt seinen Gegnern in der Kirche als der »rote Pastor«, behaupten Reuth und Lachmann. Für eine enge Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit können sie keine Indizien finden, auch sonst fällt ihre Beweisführung dürftig aus. Merkels inzwischen verstorbener Vater war also ein gläubiger Lutheraner, der mit dem Sozialismus liebäugelte. Das ist fürwahr nichts Ungewöhnliches und wurde von Merkel im Übrigen eingeräumt. Merkels Vater war zudem ein angesehener Mann – die Einschränkungen bei der Ausbildung, die die Kinder einfacher Gläubiger oftmals erfuhren, galten für Angela Merkel daher offenkundig nicht.
Was geschah 1981 in Polen? Dort konnte das junge und – wegen der Gruppenerlebnisse – begeisterte FDJ-Mitglied Merkel mit eigenen Augen sehen, wie sich eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung gegen den Staat erhob. Auf der Rückfahrt wurden in Merkels Tasche Solidar­ność-Devotionalien entdeckt, sie konnte sich aber rausreden und wurde schließlich von ihren Leitungsfunktionen innerhalb der FDJ nicht entbunden.
Und 1989/90? Merkel stieg innerhalb der Bürgerbewegung und späteren Partei Demokratischer Aufbruch, die sich im Herbst der DDR gründete, schnell auf und wurde, nachdem der DA in der CDU aufgegangen war, über einige Umwege zur Ministerin im ersten Kabinett Helmut Kohls nach dem Mauerfall und schließlich sogar stellvertretende Parteivorsitzende. Einige wundern sich, dass ihr dies alles in wenigen Monaten gelang, einige Weggefährten glauben, dass sie noch bis zum Mauerfall für den demokratischen Sozialismus eintrat. Zudem wurden einige ihrer Förderer in den Jahren nach 1990 als mehr oder weniger aktive Informanten der Staatssicherheit enttarnt.
Ist das verdächtig? Für Reuth und Lachmann schon. Und hatte nicht auch der KGB seine Finger im Spiel, als die DDR zusammenbrach? Ja, hatte er, alles andere wäre auch eine grobe Vernachlässigung seiner Pflichten gewesen. Doch für Merkels Kontakte zur Staatssicherheit oder gar zum KGB fehlen Merkels Biographen alle Belege. Warum fixieren sie sich also so sehr auf Stasi und KGB?
Reuth und Lachmann versuchen, aus dem dürftigen Material, dass sie über die bekannten Fakten hinaus zusammenrecherchiert haben, auch noch das letzte Geheimnis herauszuholen. Doch es gibt kein Geheimnis. Merkels Weg an die Spitze der CDU ist sowohl ihren politischen Fähigkeiten als auch dem Zufall zu verdanken, ist also ohne Makel.
Genau diesen Makel aber wollen Reuth und Lachmann unbedingt entdecken. Es geht ihnen nicht darum, dass Angela Merkel vielleicht irgendwelche sozialistischen Ideale verraten habe, im Gegenteil, sie wollen sie als Kommunistin, zumindest als ehemalige, denunzieren. So schreiben beide ohne Beleg, dass Merkel »und viele andere Reformkommunisten« noch lange der DDR nachgehangen hätten. Und hat sie ihren Mentor Kohl etwa wegen seines Verhaltens in der Parteispendenaffäre attackiert? I wo. Reuth und Lachmann mutmaßen wild herum: »Fast könnte man glauben, hier wirkte bei Angela Merkel ein tief aus ihrem Innern kommender Reflex nach, denn sie hatte die deutsche Einheit, für die der Name Helmut Kohl steht, ursprünglich ja gar nicht gewollt.«
Nun stellt sich die Frage, wie ein Buch, das derart unseriös ist, so einen Erfolg haben kann – und auch so breit besprochen wird, obschon es für Reuth und Lachmann, der in der Redaktion der Welt arbeitet, reichlich Häme gegeben hat.
Der Grund liegt auf der Hand. Man kann Merkel zurzeit nicht stürzen, doch ihre zum Teil für Konservative »zu moderne« Politik gilt es zu bekämpfen. Also erfindet man irgendetwas, was sie als Frau und Ossi verdächtig macht. Damit befriedigt der Kleingeist alsdann seinen Unmut.

Ralf Georg Reuth, Günther Lachmann: Das erste Leben der Angela M., Piper-Verlag, München 2013, 336 S., 19,99 Euro