Eine CD-Box über die Geschichte des Blue

Electric Blues Brothers

Wie die Elektrifizierung des Blues die ­Geschichte der Popmusik maßgeblich ­beeinflusste, erzählt die 12-CD-Box »Electric Blues«.

Ohne den Blues gäbe es bekanntlich all das nicht, was wir unter Popmusik verstehen. Ohne den Blues kein Rock’n’Roll, ohne Rock’n’Roll keine Beatles und vor allem keine Rolling Stones. Ohne den Blues gäbe es auch keinen Soul und ohne Soul keinen House und auch keinen Techno. Ohne Blues auch kein HipHop. Der Blues ist der Beginn von allem, sein Problem scheint aber zu sein, dass er so großen Einfluss auf verschiedene Musikrichtungen hatte, dass er selbst dabei immer wieder zu wenig Aufmerksamkeit erhalten hat.
Wie es heute um den Blues steht, ist auch nicht ganz leicht zu sagen. Die meisten großen Helden dieser Musik sind mit ein paar Ausnahmen wie etwa B. B. King längst gestorben. Allerdings ist einer der größten Popstars des Planeten ein geradezu fanatischer Blues-Archäologe. Jack White, der nach dem Ende der White Stripes auch solo unfassbar erfolgreich ist, wird nicht müde, seinem jungen Hipster-Publikum klarzumachen, dass der wirklich heiße Scheiß von toten alten Blues-Männern wie Son House kommt, von diesen Typen aus dem Blues-Museum.
In der Retro-Phase, in der sich die Popmusik gerade befindet, steht der Blues vielleicht gar nicht so schlecht da. Wenn es darum geht, die Archive immer wieder neu zu sichten und zu ordnen, wird auch die Geschichte des Blues revidiert. Vor ein paar Jahren produzierte Martin Scorsese gemeinsam mit befreundeten Filmemachern sein »Blues Project«. Nicht nur die Geschichte des Blues wurde hier in Dokumentationen und dokumentarischen Spielfilmen aus verschiedenen Blickwinkeln neu aufgerollt, es wurden auch Verbindungen zwischen den Platten des Blues-Labels Chess und HipHoppern wie Chuck D und Common auf­gezeigt. Der Blues, so die Message des Projekts, ist aktuell wie eh und je.
Selbst die elektronische Musik hatte eine kurze Blues-Phase. Das Berliner Elektronik-Duo Laub nahm vor ein paar Jahren eine Blues-Elektronik-Platte auf, genauso wie der Soundtüftler Ekkehard Ehlers.
Auch die 12-CD-Box »Electric Blues«, die das für voluminöse CD-Boxen bekannte Label Bear Family nun herausgebracht und mit dem unbescheidenen Etikett »Das Standardwerk!« versehen hat, versucht sich an einer Erzählung der Geschichte des Blues, die den Anschluss an die Gegenwart sucht. Allerdings funktioniert dieser Anschluss, und das ist eigentlich das Einzige, was man diesem Projekt vorwerfen kann, nicht so richtig. Die einzige Nummer aus diesem Jahrtausend, die es in die Box geschafft hat, kommt von einem gewissen Nick Moss & The Flip Tops und ist nicht sehr aufregend. Hier zeigt sich die wertkonservative Haltung von Bear Family, die allem misstraut, was wie Bilderstürmerei wirkt. Zumindest eine Nummer der John Spencer Blues Explosion hätte man mit aufnehmen können, einer Band, deren Bluesrock durchaus wild und ungestüm klingt. Stattdessen wird John Spencer an einer Stelle in den ausführlichen Booklets der Boxen als eine Art untalentierter Indierocktrottel dargestellt, der zu sehr Popstar sei, um als echter Bluesmusiker durchgehen zu können.
Alles andere ist, wie immer bei den aufwändigen Projekten von Bear Family, vorbildlich gemacht. Erneut schafft es das Label, sich selbst ein Thema vorzugeben, in diesem Falle den elektrischen Blues, und sich dann chronologisch durchs Archiv zu wühlen, bis das Thema wirklich erschöpfend durchgearbeitet ist und das Label sich das Fleißkärtchen redlich verdient hat. Während alle davon reden, dass in Zeiten des Internet die CD als archivarisches Medium tot sei, wertet Bear Family dieses Medium wie zum Trotz nochmal auf, gestaltet CD-Schuber, die man sich vielleicht doch ins Regal stellen will, und veröffentlicht in Zeiten, in denen Wikipedia den Brockhaus ersetzt hat, haptische Enzyklopädien.
Das Schöne an der »Electric Blues«-Box ist, dass es hier gleich mittenrein geht in die Welt des lauten und krachigen Blues. Die oft erzählte Geschichte des Blues, dessen Wurzeln in Afrika liegen, der über den Black Atlantic den Weg in die USA gefunden hat und dort zur Musik der Sklaven auf den Baumwollfeldern wurde, bleibt ausgespart. Man hört keine Musiker, die das Waschbrett bearbeiten oder beim Singen den Takt mit einem Fußklopfen vorgeben, es geht weniger um den Blues der ländlichen Gebiete oder die Klagegesänge der Ausgebeuteten. Im Mittelpunkt steht der elektrifizierte, der urbane Blues, dessen Epizentrum nicht mehr das Mississippi Delta war, sondern Chicago, eine Stadt, die nicht nur vielen Landarbeitern aus dem Süden Hoffnung auf ein besseres Leben machte, sondern auch den Bluesmusikern, die den Arbeitern hinterherzogen.
Die Elektrifizierung des Blues war wohl ebenso wichtig und einschneidend wie die Elektrifizierung des Folk. Als Bob Dylan 1965 beim Newport Folk Festival zur Elektrischen griff und damit die Folk-Snobs schockierte, die zu diesem Zeitpunkt die elektrische Gitarre als Ausdruck der Kommerzialisierung verteufelten, war das die Urszene der Elektrifizierung des Folk. Die Elektrifizierung des Blues entwickelte sich allmählich, niemand nahm es einem Bluesmusiker krumm, wenn er seine Musik massentauglich klingen ließ. Die Bluesgitarristen wollten ihre Soli einfach genauso laut spielen wie die Pianisten, Schlagzeuger und Bläser. Das war aber erst möglich, als sie mit einem elektrischen Verstärker antreten konnten. T-Bone Walker, Lightnin’ Hopkins, aber auch eine der wenigen Frauen unter den Bluesern, Sister Rosetta Tharpe, wurden schon in den vierziger Jahren zu den neuen Helden des elektrifizierten Blues. Little Walter etablierte dann auch noch die elektrifizierte Mundharmonika, und genau so entstand dieser wunderbar lärmige Sound, den englische Teenager in den frühen sechziger Jahren so sehr verehrten, dass sie selbst so klingen wollten wie die Schwarzen in den USA und sich sogar nach Songs ihrer Vorbilder tauften, wie etwa die Rolling Stones, die sich nach einem Stück des Bluesgitarristen Muddy Waters benannten.
Der Gitarrenheld, wie wir ihn heute kennen, geht aus dieser Entwicklung hervor, ohne die Elektrifizierung der Bluesgitarre hätte es all die Gitarrengötter von Jimmy Page bis Stevie Ray Vaughan nie gegeben. Und auch keinen Jack White, der uns wahrscheinlich auch empfehlen würde: Hört euch diese zwölf CDs voller »Electric Blues« an – obwohl er, der Retro-Fetischist, die meisten Singles, die auf dieser Box versammelt sind, als Originale auf Schellack oder Vinyl besitzen dürfte.

Diverse: Electric Blues – Plug it in! Turn it up! – 1939-2005 (Bear Family)