Anna, Anna, oh Anna

Berlin Beatet Bestes. Folge 155. Live aus Herräng, zweiter Teil.

Es regnet. In Strömen. Zwischendurch klart es immer wieder auf und sofort sind die Mücken wieder da. Millionen von Stechmücken, die wir mit verschiedensten Antimückenmittelchen abzuwehren versuchen. Mückenspray ist das allgegenwärtige Herräng-Parfüm. Zum Glück haben meine Freundin und ich in dieser Woche keinen Unterricht im schwedischen Dance-Camp und gehen stattdessen nur zu den Partys. Während wir in der letzten Woche damit beschäftigt waren, immer neue Moves und Schritte zu lernen, geht es jetzt nur um Spaß und Entspannung. Im Moment liege ich auf dem Bett unseres winzigen, bis in den hintersten Winkel praktisch eingerichteten Pippi-Langstrumpf-Hauses und fühle mich unglaublich entspannt. Trotz des schlechten Wetters ist das der perfekte Urlaub.
Gestern habe ich bis morgens um drei getanzt, mit einer Norwegerin, einer Finnin, einer Spanierin, einer Russin, einer Australierin, einer Amerikanerin, einer Türkin und sehr vielen Schwedinnen, von denen drei Anna hießen. Auf dem täglich stattfindenden »Meeting«, einer gut vorbereiteten Show mit kleinen Filmen und Tanzperformances, führte gestern ein junger Mann mit langen Dreadlocks aus Mosambik einen afrikanischen Tanz auf. Er tanzt in Maputo Lindy Hop. Swingtanzen wird also immer internationaler, nicht zuletzt wegen der Workshops, auf denen die Tanzbegeisterten zusammenkommen. Dennoch, ein gewisser Zweifel an der Sinnhaftigkeit solcher Workshops bleibt. Am meisten habe ich immer gelernt, wenn ich abends in Berlin tanzen gegangen bin. Lindy Hop ist nun mal kein Standardtanz, sondern ein afroamerikanischer Street Dance, der genau genommen keine Regeln kennt. Da es ein Partnertanz ist, braucht man einige Grundtechniken, um zusammen tanzen zu können, aber abgesehen davon ist der Lindy Hop genauso improvisiert wie der Jazz, zu dem wir tanzen.
Seit 14 Jahren besucht die Tänzerin, Sängerin und Entertainerin Dawn Hampton jedes Jahr für mehrere Wochen das Herräng Dance Camp. Die über 80jährige spricht in ihren Vorträgen, in denen die ganze Geschichte der afroamerikanischen Musik des 20. Jahrhunderts enthalten ist, über die Freiheit des Tanzens. Keine andere Person hat mich in Bezug auf das Tanzen mehr inspiriert als diese winzige, gebrechliche und dennoch sehr agile schwarze Frau. Nachdem sie eine Weile gesprochen hat, fragt sie die rund 200 Leute im Saal immer: »Also? Wer hat Mut, mit mir zu tanzen?« Wer dann nach vorne kommt, um mit ihr ein paar Schritte zu wagen, kann die freieste Tanzerfahrung seines Lebens machen, denn Dawn tanzt mit jeder Faser ihres Körpers, sogar mit den Augen und dem Gesicht. Ich habe mich auch in diesem Jahr wieder getraut und es nicht bereut. Mit jeder ihrer sparsamen Bewegungen vermittelt sie ihr Credo: »Try to learn as much as you can and then throw that shit out the window!«