Die Geschichte der Sharia

Eine Fatwa für die Revolution

Die Revolten in der arabischen Welt stellen den Staatsislam in Frage, die Islamisten geben sich gemäßigt. Doch 1200 Jahre theologischer Tradition lassen sich nicht so leicht abschütteln.

Man kann islamischer Geistlicher sein und trotzdem für die Freiheit kämpfen. Ungefährlich ist das allerdings nicht. Sheikh Emad Effat, ein Kleriker der al-Azhar-Universität in Kairo, beteiligte sich an zahlreichen Demonstrationen und verbrachte viele Nächte auf dem Tahrir-Platz. Auch am 16. Dezember protestierte er gegen das Militärregime. Als Soldaten die Kundgebung vor einem Regierungsgebäude angriffen, traf ihn eine Kugel in die Brust.
Das Begräbnis des »Sheikhs der Revolution« wurde zu einer weiteren Demonstration gegen die Militärherrscher. Viele Anhänger Emad Effats glauben nicht, dass sein Tod ein Zufall war. Der Sheikh war ein führendes Mitglied des Dar al-Iftar, das für die Erstellung von Fatwas, also religiösen Rechtsgutachten, zuständig ist. In einer Fatwa hatte er verboten, bei den Wahlen für Kandidaten zu stimmen, die mit dem alten Regime und dessen Partei verbunden waren. Beweise für ein gezieltes Attentat gibt es allerdings nicht.
Sheikh Emad Effat war eine Ausnahme unter den traditionell devoten Klerikern von al-Azhar. Dass es an dieser erzkonservativen Universität, die seit dem zehnten Jahrhundert zuverlässig Herrschern die gewünschten Fatwas ausstellt, überhaupt Dissidenz gibt, zeigt jedoch, wie tiefgreifend der Wandel in Ägypten ist. Der Staatsislam ist in Auflösung begriffen, die Universitätsleitung von al-Azhar und zahlreiche Imame staatlich finanzierter Moscheen fordern Unabhängigkeit von Anweisungen der Regierung.
Eine Garantie für gesellschaftlichen Fortschritt ist diese Unabhängikeit nicht. Auch Emad Effat blieb in seiner Vorgehensweise traditionsgebunden, er befolgte die Regeln der Theologie und der Rechtslehre. Zudem erscheint es fragwürdig, die Ablehnung von Kandidaten des alten Regimes unter Berufung auf eine höhere Macht zu dekretieren. Sollte das politische Argument, das der Sheikh anführte – das Personal Mubaraks werde dafür sorgen, dass Korruption und Klientelismus erhalten bleiben –, nicht ausreichen?

Eine Fatwa ist kein Gesetz. Sie wird auf Ersuchen eines ratsuchenden Gläubigen ausgestellt und ist nicht rechtsverbindlich, nicht einmal für den Antragsteller. Auch ist niemand verpflichtet, den Rat eines Geistlichen einzuholen, jeder Gläubige darf in religiösen Belangen seinem eigenen Urteil vertrauen. Das klingt liberal, und tatsächlich nutzen liberale Muslime diese Möglichkeit (siehe Seite 20). Auch sie können sich in vielen Fragen auf den Koran, die Überlieferung des Propheten (Sunna) und Beispiele aus der frühislamischen Geschichte berufen. So leitete Umm Waraqa im Auftrag des Propheten Mohammed das Gebet einer Gruppe von Gläubigen beider Geschlechter, dies kann als Beleg dafür angeführt werden, dass auch Frauen Imam (Vorbeter) sein dürfen.
Über diese Frage wird unter anderem in islamischen Internetforen eifrig diskutiert. Ein eigentlich nicht zur Sache gehörendes, aber populäres Argument bringt Abu Yusuf Tawfique Choudhury, Autor der islamistischen Website Islamic Awakening, vor: »Es ist ausgeschlossen, dass sich die Muslime in den vergangenen 1400 Jahren bezüglich der Rechte und Pflichten von Frauen geirrt haben.« Zu begründen, warum dies ausgeschlossen sein soll, hält Choudhury für überflüssig. Die Tradition der muslimischen Gelehrsamkeit ist ihm Beweis genug.
Mit dieser Ansicht steht er nicht allein. Viele Gläubige wenden sich, etwa weil sie, wie mindestens 30 Prozent der ägyptischen Bevölkerung, Analphabeten sind, an eine Autorität, an einen Staatskleriker oder, falls sie der Regierung misstrauen, an einen unabhängigen Imam, Sheikh oder Mullah ihrer Wahl. Deren Ratschläge und Fatwas können sehr unterschiedlich ausfallen, wenn es um konkrete Fragen des Allags oder der Politik geht. Weitgehend einheitlich sind jedoch die Grundlagen der Interpretation, die auch von den Islamisten anerkannt werden.
Vermutlich im neunten Jahrhundert haben sich die Theologen über die Prinzipien der Auslegung verständigt, im zwölften Jahrhundert war, nachdem Mohammed al-Ghazali und seine Anhänger die Zurückweisung nichtislamischer Philosophen durchgesetzt hatten, die Dogmatisierung abgeschlossen. Ein gewisser Spielraum blieb erhalten, Dissidenten wurden relativ selten hingerichtet. Doch wer als Theologe etwas gelten wollte, musste fortan strikten Regeln folgen.
Der Koran galt als das direkte Wort Gottes, der Sunna wurde eine fast ebenso große Autorität zugesprochen. Da sich schnell herausstellte, dass die Quellen auf viele Fragen keine Antwort geben konnten, wurden Methoden zur Klärung entwickelt: Qiyas, der Analogieschluss, Ijma, der Konsens der Rechtsgelehrten, und Ijtihad, die eigenständige Rechtsfindung. Auch diese freieste Form der Interpretation, die von manchen Theologen abgelehnt wird, weil sie das im Mittelalter Niedergeschriebene für ausreichend halten, und die andere nur den charakterfestesten und belesensten Gelehrten zugestehen wollen, bleibt an den Wortlaut der Quellen gebunden. Daher sind sich die oft als Beispiel für den internen Pluralismus der islamischen Theologie angeführten vier sunnitischen Rechtsschulen in den Grundfragen einig, auch die schiitische Geistlichkeit folgt den allgemeingültigen Prinzipien.

Der Bezug auf die als heilig betrachteten Quellen verpflichtet dazu, ein frühmittelalterliches Gesellschaftsbild auf die Gegenwart zu übertragen. Dass es damals weder Gleichstellungsbeauftragte noch Gay-Pride-Paraden gab, kann man dem Propheten schwerlich vorwerfen. Die entscheidende Frage für die heutige Zeit ist: Wurden die Gesetze ein für alle Mal von Gott festgelegt oder werden sie von den Menschen gemacht?
Islamisten und Staatskleriker bestanden bislang darauf, dass die Souveränitiät des Menschen bei der Gesetzgebung dort endet, wo göttliche Gebote in Frage gestellt werden. Diese Beschränkung ist die Sharia (»der Weg«), die kein kodifiziertes Gesetzbuch ist, sondern eine Sammlung von Regeln, nach denen das öffentliche und private Leben gestaltet werden muss. Die Frage der Staatsform bleibt dabei offen. Die Selbstherrschaft gilt nicht als heilig, die Prinzipien der Shura (Konsultation) und des Bay’ah (Treueeid, der beide Seiten verpflichtet) können Parlamentarismus und Gesellschaftsvertrag legitimieren. Doch was ist in einer »islamischen Republik« erlaubt?
In der »Islamischen Republik Iran« kaum etwas, doch ist Khomeinis Version des »Gottesstaates«, der von einem Geistlichen geführt werden muss, eine moderne Erfindung. Ein vergleichbares sunnitisches Staatsmodell gibt es nicht, sunni­tische Islamisten bestehen vor allem auf einer strikten Anwendung der »islamischen«, also dem traditionellen Interpretationsmuster folgenden Gesetze. Dadurch wird unter anderem eine Gleichberechtigung der Frauen praktisch unmöglich, denn in den Quellen finden sich konkrete Regeln, die Frauen etwa beim Erbrecht benachteiligen. Doch auch ein Verbot säkularer Parteien ließe sich mit der Sharia begründen.
Derzeit geben sich die großen islamistischen Organisationen in Nordafrika sehr gemäßigt. Faschisten können zu gewöhnlichen Nationalisten werden, eine vergleichbare Mäßigung ist auch bei Islamisten möglich. Nur wenn sie sich als reli­giöse Konservative präsentieren, können sie Wahlen gewinnen, und ohne eine Kooperation mit der säkularen Demokratiebewegung lassen sich Staaten wie Tunesien und Ägypten nicht regieren. Auch der Kapitalismus kann ausnahmsweise eine segensreiche Rolle spielen, in der Türkei bewirkte vor allem die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft und gute Geschäfte mit dem Westen, dass islamistische Unternehmer und Kleinbürger sich zu Kompromissen bereitfanden. Doch andererseits zeigt die Politik Recep Tayyip Erdoğans, dass auch die »Gemäßigten« es ernst meinen mit der »Islamisierung«.
Deshalb wird sich die säkulare Demokratiebewegung mit der traditionellen Theologie befassen müssen. Verschiedene Strategien, die auch kombiniert werden können, sind denkbar. So liegt es für Gläubige nahe, mit einer explizit säkularen Theologie zu kontern. Diese müsste den Bezug auf den Wortlaut der Quellen durch eine Interpretation der Prinzipien ersetzen, also beispielsweise in der vom Propheten verfügten Erhöhung des Erbanteils der Frauen eine Maßnahme auf dem Weg zur Gleichstellung sehen, statt den damals festgelegten Prozentsatz für ewig gültig zu erklären.
Eine solche Herangehensweise lässt sich theologisch begründen, das haben Nasr Hamid Abu Zaid und andere liberale Intellektuelle bewiesen. Praktiziert wird sie ohne theologische Rechtfer­tigung von sehr vielen Muslimen, deren Haltung zur Religion dem Alltagskatholizismus ähnelt. Man respektiert die Geistlichen, ohne sich allzu viel um ihre Mahnungen zu scheren. Schließlich ist Gott barmherzig, er wird die eine oder andere Sünde verzeihen. Das allerdings ist nicht möglich, wenn, wie im Iran und Saudi-Arabien, in weniger harter Form aber auch in vielen anderen islamischen Staaten, die Regelungen der Sharia Gesetzeskraft haben und von einem modernen Repressionsapparat durchgesetzt werden.

Die Aufhebung des Staatsislam wäre ein erster wichtiger Schritt zur Säkularisierung. Eine 1 200 Jahre alte theologische Tradition wird nicht einfach verschwinden, doch wenn der Staat religiös neutral bleibt und die Meinungsfreiheit garantiert, wird erstmals eine offene Debatte möglich. Die Macht der Geistlichen kann aber auch durch rein weltliche Maßnahmen geschwächt werden, etwa durch eine Erhöhung der Frauenerwerbsquote, die mehr Frauen ökonomische Unabhängigkeit verschafft.
Die nordafrikanischen Islamisten stellen die Grundlagen ihrer Ideologie nicht in Frage. Derzeit spricht wenig dafür, dass sie versuchen werden, gewaltsam einen »Gottesstaat« durchzusetzen, doch ungeachtet der auch in gesellschaftspolitischen Fragen zur Schau gestellten Toleranz etwa der tunesischen Ennahda sind in diesem Bereich heftige Konflikte zu erwarten. Unter dem Druck der neuen Verhältnisse könnte das zu einer Amerikanisierung der religionspolitischen Verhältnisse führen. Die religiöse Rechte mag auf ihrem Gottesbezug beharren. Wenn sie darauf verzichtet oder verzichten muss, dem Rest der Bevölkerung ihre Werte aufzuzwingen, bleibt sie zwar eine reaktionäre Strömung, doch die Trennung von Staat und Religion wäre vollzogen.