Ein Nachruf auf die brasilianische Fußballlegende Sócrates

»Ich rauche, trinke und denke.«

Am 4. Dezember 2011 starb der brasilianische Fußballer, Kinderarzt und Intellektuelle Sócrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveira in São Paulo.

Es hat sich einiges getan in der Welt des Fußballs. Während vor einigen Jahren noch diejenigen, die der Boulevard gern als »richtige Typen« bezeichnet, also Kicker vom Schlage eines Michael Ballack oder eines Stefan Effenberg, großspurig den Ton angaben, hat dies mittlerweile eine junge, dynamische und recht professionelle Generation übernommen, die mit eindimensionalem, körperbetontem »aggressive leading«, rüpelhaften Eskapaden und verbalen Ausfällen wenig bis gar nichts zu tun zu haben scheint. Im Gegensatz zu jenen »Bad Boys« und deren archaischer Art, Leben und Fußball in eins zu setzen, wirkt die glatte und ruhige Art der neuen Generation tatsächlich zunächst positiv auf die meisten kritischen Fußballfans, denen bei Wörtern wie »Leitwolf« oder »Titan« die Freude am Spiel vergeht.
Allerdings unterscheidet diese neuen Fußballprofis, verkörpert durch Philipp Lahm oder Manuel Neuer, manchmal gar nicht so viel vom überkommenen Spielertypus vergangener Zeiten: die Leichtigkeit und Unaufgeregtheit der Generation lässt sich auch als zeitgemäße, viel subtilere Form des stromlinienförmigen Duckmäusertums verstehen. Schließlich verkörpern diese Fußballer so etwas wie den idealen Bürger, der als vermeintlicher Teil der Gesellschaft zugleich aus ihr herausragen und als Idol für alle taugen soll: zu allem eine Meinung, aber nichts zu sagen; gut ausgebildet, aber gefangen im System. So stellt sich die postmoderne Mediengesellschaft ihre Mitglieder vor, die allesamt so sein wollen wie die neuen Idole auf dem Rasen: anständig, tolerant, individuell – aber immer orientiert an der kuscheligen Wärme der Mehrheit. Dabei schwingt das Bedürfnis mit, trotz aller öffentlichen Aufmerksamkeit nicht aufzufallen oder auszuscheren – wo doch gerade über herausragende Leistungen die anderen ebenfalls dazu animiert werden sollen, ihr Bestes fürs Ganze zu geben und sich unterzuordnen.
Dass es jenseits dieser beiden Spielertypen einmal Profis mit einer anderen Auffassung von Fußball gab – so widersprüchlich diese manchmal auch sein mochte – das zeigten im weltweiten Fußballbusiness, das immer schon von den Idolen auf dem Rasen lebte, nur hin und wieder einige Spieler und noch weniger Trainer. Der brasilianische Fußballer Sócrates gehörte zu diesen wenigen. Der talentierte Schlacks, über dessen im Verhältnis zu seinem Körper kleine Schuhgröße die Zeitungen immer gerne zuerst berichteten, begann seine Karriere bei Botafogo, bevor er bei den Corinthians aus São Paulo dann berühmt wurde. Er gehörte als Kapitän der brasilianischen Nationalmannschaft und Mittelfeldspieler zu den sogenannten »Fantastischen Vier« um Zico, Falcao und Toninho Cerezo und sollte bis zu seinem Tod einer der wichtigsten Protagonisten des brasilianischen Fußballs bleiben.
Sócrates’ Vater, ein Mann aus ärmlichen Verhältnissen, hatte seine drei Söhne nach griechischen Philosophen benannt, in der Hoffnung, dass sie es ihren Namensgebern einmal gleichtun würden. Sócrates machte seinem Namen alle Ehre und erwarb sein Diplom in Medizin an einer der renommiertesten Universitäten Brasiliens. Während er die WM-Teilnahme 1978 noch wegen des Medizinstudiums absagen musste, gelang ihm zur Weltmeisterschaft 1982 der endgültige Durchbruch. Er erzielte einen der schönsten Treffer der WM-Geschichte beim 2:1-Sieg gegen die damalige UdSSR, dennoch verpasste die Mannschaft 1982 wie auch 1986 den Weltmeistertitel, obwohl das Team um Sócrates noch heute als eine der talentiertesten Selecaos in der Geschichte des brasilianischen Fußballs gilt.
Sócrates war ein anderer Führungsspieler als jene Grobiane aus Deutschland, auf die man hierzulande schon immer mit einer unangenehmen Mischung aus Stolz, Neid und Ehrfurcht blickte. 1984 gab er kurz vor seinem Engagement beim AC Florenz ein Interview, währenddessen er Bier trank und Zigaretten rauchte. Auf die Frage, ob dies für einen Fußballprofi denn angemessen sei, antwortete er: »Ich bin kein Athlet. Ich bin Fußballkünstler.« Rauchen und Trinken galten ihm dabei als individuelle Haltung, als zweckfreie und genussvolle Tätigkeit und nicht als borniertes Anbiedern an den Stammtisch.
Obwohl er als trainigsfaul galt und nicht in das damals allgemeingültige Raster des Fußballprofis passte, gehörte Sócrates zu den besten Spieler seiner Zeit. Seine politischen Interven­tionen gegen die Junta, die durch verschärfte Repression jede Regung von Widerstand zu unterdrücken versuchte, kamen bei vielen Brasilianern aus den ärmeren Gegenden gut an. Sócrates’ Engagement ist auch im Kontext dieser Zeit und seines Verständnisses von Fußball zu sehen. So initiierte er mit einigen anderen Spielern während seiner aktiven Zeit beispielsweise die sogenannte »Democracia Corinthiana«, die den Spielern der Corinthians Mitspracherecht in allen Belangen des Clubs geben sollte und dort die starren Hierarchien aufbrach, die bis dahin im Fußball gegolten hatten.
Nachdem Sócrates seine Fußballkarriere beendet hatte, arbeitete er als Kinderarzt, war als Kolumnist für diverse Zeitungen tätig und komponierte sogar einige Musicalstücke. Ganz vom Fußball lassen konnte er jedoch nicht: Er meldete sich noch in seinen letzten Jahren immer wieder zu Wort, kritisierte die wachsende Bedeutung der Athletik im modernen Fußball, die einem schönen, ästhetischen und kunstvollen Spiel den Raum nehme, und befürwortete zum Teil recht absurde Reformvorschläge, die den Fußball attraktiver machen sollten.
Trotz mancher Verirrungen, die auch einige von Sócrates’ politischen Ansichten aus heutiger Sicht fragwürdig erscheinen lassen – etwa seinen Flirt mit dem Castro-Sozialismus –, erinnerte er mit seiner Auffassung von Fußball als individueller Kunst, den eleganten Hackentricks und wichtigen Toren doch immer auch an eine Hoffnung, die nicht nur ästhetisch mit einem besseren Leben verknüpft war. Wie verkümmert diese Hoffnung in dieser 90minütigen Traumwelt überhaupt bewahrt sein mag, Sócrates’ Spiel stand für deren zivilisatorischen Gehalt: Gerade in Brasilien war und ist der Fußball eine wichtige und durchaus ernstzunehmende Chance, wenigstens eine Zeitlang vom Sieg über die schmerzliche Realität und das alltägliche Elend zu träumen. Und davon, dass es auch abseits des Sportplatzes einen würdigeren und besseren Zustand geben müsste als den, welchen das Leben sonst bereithält.
Sócrates starb am 4. Dezember 2011.