Eine Hamburger Ausstellung über Wunder

Die Dialektik des Wunders

Als Wunder werden unerklärliche Ereignisse, spontane Heilungen, spektakuläre Naturschauspiele oder verblüffende technische Innovationen bezeichnet. Eine Ausstellung in Hamburg widmet sich diesem Phänomen.

Der Säkularisierung zum Trotz ist das Phänomen des Wunders in der Moderne nicht verschwunden. Ebenso wenig hat die Aufklärung, die den Glauben durch Wissen zu ersetzen beanspruchte, den Wunderglauben abgeschafft. Gerade die verwaltete Welt steckt voller Magie, Zauberei, Überraschungen, Absonderlichem, schönen wie grausamen Unbegreiflichkeiten, so dass am Ende das Leben selbst als Sammelsurium von Wundern erscheinen mag. Die Zeit überdauert haben aber auch die üblichen Täuschungen und klassischen Trugbilder der Ideologie. Um diese und andere Wunder geht es in der Ausstellung »Kunst, Wissenschaft und Religion vom 4. Jahrhundert bis zur Gegenwart« in den Hamburger Deichtorhallen.
Manche Leute sagen, sie wunderten sich über gar nichts mehr. Eine hübsche Paradoxie steckt in diesem Satz, denn derjenige, der das sagt, meint eigentlich genau das Gegenteil: Dass er sich über alles wundere. Gründe, sich zu wundern, gibt es genug, sie stecken in der Dialektik des Wunders selbst, nach der sich Wunder gerade dort häufen, wo es alles andere als wunderbar zugeht. »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen«, singt Zarah Leander in dem von Bruno Balz geschriebenen Lied. Was aber ist mit denen, die eine so wundervolle Zukunftsperspektive nicht haben? Wem der Alltag in Routine erstarrt und keine Möglichkeiten mehr bietet, dem begegnen sie womöglich am ehesten: die Marien, die Aliens und Ufos. Mit den Frustrierten und Verzweifelten können all die Geistheiler, Schamanen und Priester ihre Geschäfte machen. Wunder sind Grenzphänomene, die an den Grenzen praktizierter Aufklärung ebenso wie an den Grenzen der Gesellschaft in Erscheinung treten, also jenseits von menschenwürdigen Lebensbedingungen. Ufos, die Jungfrau Maria oder Geistheilungen gibt es dort, wo es ansonsten wenig gibt.
An sogenannte Wunder klammern sich diejenigen, für die Säkularisierung eigentlich nur bedeutet, dass ihnen die Hoffnung genommen und die Religion geblieben ist. Hingegen hat sich der moderne Stadtmensch gemeinhin mit den Resten der Alltagsmagie zu begnügen. Manchmal kommt es für ihn einem Wunder gleich, findet er einen lange vermissten Gegenstand wieder. Es gibt auch das Wunder, gegen jede statistische Wahrscheinlichkeit mit einer Bewerbung um eine Wohnung oder einen Job erfolgreich zu sein, oder die plötzliche Einsicht bei einer Prüfung »wie durch ein Wunder« die richtige Antwort gewusst zu haben. Freilich gibt es dar­über hinaus auch das »Wunder«, bei Krankheit, Unfall oder Verbrechen mit dem Leben davonzukommen.
Wunder korrespondieren dabei immer mit dem Glück. Sie fungieren gewissermaßen als falsche Metaphysik des gelingenden Lebens ebenso wie als richtige Metaphysik des falschen Lebens: Es gibt Wunder eigentlich nur, weil das Glück die Ausnahme ist, das gelingende Leben bloß Zufall. Die Dialektik des Wunders begleitet dabei die Dialektik der Aufklärung als Schatten, die lichten Erscheinungen der Wunder verdunkeln zugleich die Aufklärung. Eine Szene aus einem Film, den ein Freund von mir über die Lebensverhältnisse im kolumbianischen Medellín machte, zeigt das auf grausame Weise: Zwei Männer berichten von Marienerscheinungen in ihrem Viertel; das Wunder haben sie als Zeichen verstanden, das Leben hier selbst in die Hand zu nehmen, ihre Familien zu schützen. Sie sind daraufhin einer bewaffneten Gruppe beigetreten, haben getötet und die Dinge vermeintlich in Ordnung gebracht.
Nehmen wir die Bergleute, die vor einigen Tagen in China aus dem Schacht geholt wurden und das Grubenunglück »wie durch ein Wunder« überlebten: Ihre Kollegen dürften unter denselben schlechten Bedingungen längst wieder unter Tage weiterarbeiten. Wunder haben Klassencharakter, und die sozialen Verhältnisse, die sie spiegeln, sind immer solche von Herrschaft und Beherrschung. Wer nicht weiß, wie er den nächsten Tag überstehen soll, wer Angst hat und Angst haben muss, der ist auf Wunder angewiesen. Sowieso lebt der Mensch nicht vom Brot allein; wer aber genügend Brot und weitaus mehr hat, der lebt so wundervoll, dass er das Wunder selbst nicht braucht.
In der Hamburger Ausstellung wird die Sozialgeschichte des Wunders leider nicht berücksichtigt. Ohnehin entpuppen sich viele der in der Ausstellung präsentierten Wunder lediglich als erstaunliche Artefakte, die man dem Publikum pädagogisch nahebringen will. Das Sammelsurium wissenschaftlicher und kulturhis­torischer Exponate – etwa die »Wunderwaffe« V2, das Hamburger Patent für die Wunderkerze, historische Wundergläser, Votivbilder, eine Reliquie, ein heilmagnetisches Benediktuskreuz, Geisterhände, Sal Mirabilis, Seligsprechungsakten, ein Prachtkoran, Tiefseefische, ein Meteorit, ein Perpetuum Mobile sowie Zauberstäbe, Wunderstoffe, Wunderpillen, Hexenkessel und Goethes Zauberkasten – soll neugierig machen auf die ebenfalls ausgestellte Kunst, insbesondere auf die Gegenwartskunst.
Angesprochen werden sollen »Menschen, die Berührungsängste oder auch gar keine Lust haben, sich mit Kunst zu beschäftigen«, wie Daniel Tyradellis das kuratorische Konzept seiner Gruppe »Praxis für Ausstellungen und Theorie« erläutert. Und die Liste der Künstler ist lang und vielfältig, sie enthält fast 60 Namen, darunter Joseph Beuys, Cosima von Bonin, Andreas Gursky, Martin Kippenberger und Albert Oehlen.
Das Wundersame des Wunders zu erfahren, bleibt indes den jüngsten Besuchern überlassen, den Kindern: »Offen und empfänglich zu sein für das Wundern ist eine Fähigkeit, die man in unserer Kultur eher Kindern als Erwachsenen zuschreibt. Gleichzeitig ist aber auch das Gegenteil wahr: dass ein naiver Blick ohne die Hilfe von Bildung und Erfahrung dazu verurteilt, Dinge nicht zu verstehen oder für ein Wunder zu halten, was nur ein einfacher Trick ist. Um dieser Ambivalenz nachzuspüren, wurde für die Ausstellung eine eigene Spur für Kinder entwickelt«, heißt es im Faltblatt, das die Besucher beim Eintritt erhalten.
Hier wird versucht, die alte Idee der Wunderkammer zu modernisieren, wie es sie in der Spätrenaissance an den Fürstenhöfen als Raritäten- oder Kuriositätenkabinett gab. Die Ausstellung erinnert zuweilen an das Konzept eines Technikmuseums, etwa das Exploratorium in San Francisco. So wird die ausgestellte Kunst zum Beiwerk degradiert. Oft ist es schwer zu unterscheiden, ob es sich bei Exponaten um wunderliche Kunstwerke oder kunstvolle Wunderwerke handeln soll.
Dominiert wird das Design von den Farben Betongrau und Pink. Das verleiht der Ausstellung den Charakter einer Modenschau und verwandelt die Exponate in Couture. Die Artefakte gewinnen damit etwas Komisches, erfahren ihre nachträgliche und notwendige Säkularisierung in der ironischen Übertreibung, im Witz.
Eines der ersten Exponate, auf die man bei einem Rundgang stößt, ist eine riesige Sammlung von Pokémon-Karten vor einem Perpetuum Mobile. Ein paar Räume weiter wird das Thema Wunder ins Groteske, Kitschige getrieben. Die Collage »DeLuxe« (2004/2005) von Ellen Gallagher zeigt eine Maske mit aufgesetzten Kulleraugen vor einem Schwarzweiß-Foto aus einer alten Illustrierten – ein optischer Gag, der sofort als Fake, als Karikatur, allerdings ebenso als Reklame, als Ware, als Spektakel erkennbar ist.
Paradoxerweise verweist die Ausstellung dann doch noch auf die gesellschaftliche Dimension des Wunders, auf die Struktur der Verhältnisse selbst: Es geht um den Fetischismus einer sich in der Kommodifizierung verdoppelnden Spektakel-Realität, in der »alles, was unmittelbar erlebt wurde, einer Vorstellung gewichen ist« (Debord). Diese Vorstellung aber ist das Wunder, das Marx mit theologischen Mucken und metaphysischen Grillen bezeichnete, nämlich das Wunder der Ware, das Marx so beschrieben hat: »Es ist sinnenklar, dass der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes z. B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.«
Der tanzende Tisch, den Marx beschreibt, sprengt, wie die Ware überhaupt, die Grenzen von Kunst, Wissenschaft und Religion und findet sich in dieser dem Spektakel verpflichteten Ausstellung nicht. Eine Ware ist viel zu gewöhnlich und allgemein, um als Überraschung oder außerordentliche Begebenheit ausgestellt zu werden: Wenn an jeder einzelnen Ware die Tatsache, dass sie Ware ist, immer wieder von Neuem als Wunder erschiene, würde sie als Ware nicht recht ihren Zweck erfüllen. Ihr Wunder ist ja gerade ihre Banalität. Hingegen ist wohl eine Ausstellung zum Thema »Wunder« verpflichtet, ihre Exponate als Besonderheiten zu inszenieren – sei es als Kunst, Wissenschaft oder Religion. Andernfalls hätte das Wunder selbst in seinem ideologischen Charakter nicht als notwendig falsches Bewusstsein bestätigt, sondern durchbrochen werden müssen – was früher im Sinne der Moderne den Fortschritt von Religion versus Wissenschaft versus Kunst bedeutet hat.
Heute reduziert sich das Wunder unter der Herrschaft der technologischen Rationalität auf die Anekdote des individuellen Schicksals. Die gesellschaftliche Dimension des Wunders ist nicht mehr als solche erfahrbar. Gerade dort, wo die vielen Wunder noch auf die gesellschaftlichen Bedingungen, das Soziale überhaupt verweisen könnten, rutscht das Wunder ins Private. Weil es Spektakel wird, erscheint keines der Weltwunder mehr spektakulär. Louis Arm­strongs Song »What a Wonderful World« von 1968 ist nur zynisch zu verstehen: als Farce im Soundtrack (für »Good Morning, Vietnam«) oder in der Reklame (für Opel), als Tragödie im Song von Israel Kamakawiwo’ole mit Ukulele. So wird die Dialektik des Wunders auf die Spitze getrieben, aber nicht beseitigt. Sie ließe sich nur aufheben durch Verwirklichung und vice versa: Es wäre das Wunder schlechthin, wenn die Welt von allen Wundern befreit wäre.

Wunder. Kunst, Wissenschaft und Religion vom 4. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Deichtorhallen Hamburg.
Bis 5. Februar