Zum Verhältnis von Industrie und Staat im Neoliberalismusa

Der Konzern, der Staat und die Katastrophe

Die Reaktorkatastrophe in Fukushima gibt Auskunft über die Aufgabenteilung von Industrie und Staat im Neoliberalismus.

Die Atomausstiegspläne der Bundesregierung stoßen erwartungsgemäß auf heftigen Widerstand bei Mitgliedern der Regierungsparteien und bei der Industrie. Auf dem »Wirtschaftstag 2011« am 25. Mai ging Jürgen Großmann, der Vorstandsvorsitzende von RWE, vor Vertretern des CDU-Wirtschaftsflügels mit Angela Merkel und dem geplanten Atomausstieg ins Gericht. »Kein Indus­trie­standort ohne wettbewerbsfähige Energieversorgung«, hieß das Referat, das Großmann vor einem überwiegend aus Angehörigen des CDU-Wirtschaftsrates bestehenden Publikum hielt, die sich unter dem Motto »Deutschland: Motor in Europa – Industrieland mit Zukunft« in den Tagungsräumen des Berliner Dorint-Hotels versammelt hatten. Während draußen Greenpeace für einen zügigen Ausstieg aus der Atomkraft demonstrierte und gegen die »Seilschaften«, die von Politikern mit der Energiewirtschaft gebildet werden, warnte Großmann drinnen die Bundesregierung vor einer »Ökodiktatur«. Der Manager prophezeite einen wirtschaftlichen Abschwung, der sogar zu einer Gefahr für die Demokratie in Deutschland werden könne.
Die Drohung eines Managers mit einer Destabilisierung des Gesamtsystems ist einigermaßen originell. Dass Wirtschaftskrisen tatsächlich eine Gesellschaft ins Wanken zu bringen vermögen, wird als Argument eigentlich traditionell von linker Seite angeführt. Versehen ist die Warnung vor den Krisenzyklen des Kapitalismus als Gefahr für die Allgemeinheit dann allerdings stets mit der Forderung nach einer anderen, krisenresistenteren Wirtschaftsform. Bei Großmann war das selbstredend nicht der Fall, er sieht seinen Konzern eher im Dienst an der Gesellschaft tätig. Daher lädt die Rede des RWE-Vorstandsvorsitzenden zu einigen grundsätzlichen Gedanken über das Verhältnis von demokratischer Legitimität und Atomwirtschaft ein. Schließlich hat nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima mit Japan gerade eine Demokratie der Welt ein Beispiel gegeben, wie sich das Verhältnis von Konzern und Staat im Ernstfall gestaltet.

In den ersten Tagen nach dem Reaktorunfall in Fukushima blieben lebenswichtige Informationen von der japanischen Betreibergesellschaft Tepco monopolisiert. Japan, eine seit Jahrzehnten fest in das westliche System integrierte Wirtschaftsmacht, offenbart einen Mangel an Transparenz, der fatal an die Sowjetunion in den achtziger Jahren erinnert. Dabei blieb im Fall der Atomkatastrophe in Tschernobyl die Misere immerhin noch zentralisiert, da die Hauptakteure die staatlichen Institutionen selbst waren. Der japanische Staat dagegen musste den Energiekon­zern Tepco anfangs demütig um die neuesten Daten der havarierten Reaktoren bitten, der Konzern prüfte wohlwollend, ob er diesem Anliegen stattgeben sollte. Ein Krisenstab unter Leitung der Regierung wurde erst nach Tagen eingerichtet, und bis heute vermag der Konzern die Informationen über die Ausmaße des Unfalls zu kon­trollieren.
Aus diesem Grund ist bereits Ende April Toshiso Kosako, der Berater der japanischen Regierung in Atomfragen, zurückgetreten. Als Wissenschaftler könne er das Missmanagement in Fukushima nicht mehr verantworten, ließ er die Öffentlichkeit wissen. Mittlerweile wird immer deutlicher, wie dürftig oder auch falsch die Mitteilungen des Konzerns waren. Objektive Angaben über die Mende der freigesetzten Radioaktivität kamen schließlich aus externen Quellen wie den US-Streitkräften oder unabhängigen Umweltorganisationen. Tepco räumte erst mit zweimonatiger Verspätung ein, dass es in drei der Atomreaktoren des Kraftwerks bereits am Tag des schweren Erdbebens und des Tsunamis zu einer Kernschmelze gekommen war. Ebenso lange zog sich der Rücktritt des Tepco-Vorstandsvorsitzenden Masataka Shimizu hin, der in den ersten Wochen der Katas­trophe zum Ärger der Regierung unsichtbar geblieben war. Dennoch trat der japanische Staat durch seinen weitgehenden Verzicht auf eigene Maßnahmen zur Lagefeststellung von Anfang an die Entscheidungsgewalt an Tepco ab.
»Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«, lautete Carl Schmitts klassische Ermächtigungsformel des autoritären Staates. Nur wer seinen Mitbürgern alles – bis hin zum nackten Leben – abverlangen kann, übt unbestreitbar die politische Macht aus. Das gilt für den Staatsstreich ebenso wie für die Produktion und den Krieg. Diese Totalität sichert der autoritäre Staat aufgrund mangelnder Legitimität zumeist gewaltförmig ab. Soll die Ausübung der Herrschaft dagegen nicht auf blanker Gewalt beruhen, bedarf es der aufwendigen Überzeugungsarbeit, der Public Relations. Kluges Management der Öffentlichkeit entscheidet über den Anschein von Freiwilligkeit und Zwang, den Wechsel vom Normal- in den Ausnahmezustand. Angesichts der gravierenden Auswirkungen der Havarie für die japa­nische Bevölkerung und die Nachbarstaaten wurde in Japan jetzt der Konzern zum eigentlichen Souverän. Er verwaltete den Ausnahmezustand, das Prinzip der Legitimität war erneut außer Kraft gesetzt.

Dieses Zusammenspiel von Tepco und der japanischen Regierung gibt Auskunft über die Logik des Staates im Neoliberalismus. Im Unterschied zu seinen interventionsfreudigeren Vorläufern, die sich um Lastenverteilung mühten und auch selbst Nachfrage schufen, beschränkt sich der neoliberale Staat auf die Ebene des Angebots. Er schafft lediglich einen Ordnungsrahmen, in dem sich die Wirtschaft entfalten kann. Die hohe Staatsquote autoritärer Regime galt den Verfechtern des Neoliberalismus stets als Argument gegen jede Kontrolle der Wirtschaft. Es half, den Rückzug des Staates auch aus den Schlüsselpositionen der Versorgung durchzusetzen. Seine neue Rolle ist die des Dienstleisters, der auf seinem Terrain optimale Bedingungen bietet. Dabei bleibt er eine Chimäre, denn er ist für seine Bürger nah und fern zugleich. Fern ist der Staat für den Unternehmer, der ohne einschränkende Regulation zu agieren vermag, nah ist er dagegen für alle, die zuvor durch die Regulation geschützt waren. Allerdings ist es ein Fehlschluss, zum Ausgleich dieses Missverhältnisses auf die Rückkehr des starken Staats zu hoffen. Auch der neoliberale Staat ist nicht schwach. In seinem Steueraufkommen und damit in seiner Handlungsfähigkeit beschränkt, muss er den Rückzug aus dem Gemeinwesen sogar stets mit einem Mehr an ordnungspolitischen Maßnahmen kompensieren. Der vorgeblich geschrumpfte Staat agiert auf den ihm verbliebenen Feldern schließlich umso autoritärer. Die Vorstellung von einer »Liberalisierung« durch den Rückzug des Staates führt in die Irre, da dieser keine Freiräume hinterlässt, sondern nur Platz für andere Akteure schafft. Bis in den Bereich der Ordnungspolitik ­hinein treten private Unternehmen auf, die quasi hoheitliche Aufgaben ausüben: vom Sicherheitsdienst bis zum Gefängnis. Privatisiertes »Krisenmanagement« bekam die Welt schon von BP am Golf von Mexiko geboten. Seit mit dem Outsourcing von militärischen Dienstleistungen nach dem Vorbild der US-Söldnerfirma Blackwater (seit 2007 Xe Services) auch das Kriegshandwerk, der Zwilling der Staatskunst, privaten Anbietern übereignet wurde, stellt sich die Frage nach der Souveränität heute neu. Der Abbau der Staatsquote allein garantiert also noch lange keine demokratische Gesellschaft.

Japan kann auf eine lange Tradition der engen Zusammenarbeit von Wirtschaft und Staat zurückblicken, die durch langjährige Regierung der Liberaldemokratischen Partei noch gefestigt wurde. Der Konzern Tepco erlangte seine Bedeutung in der Wiederaufbauphase des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg. Dem Staat oblag dabei die strategische Koordination der privaten Industrie und vor allem die Wahrung ihrer Interessen nach außen. Die Welle der Deregulierung, die auch Japan erfasst hatte, vermochte das Zusammenspiel beider nicht zu stören. Ohnehin werden strategische Entscheidungen wie die Frage der Energieversorgung nie von der Wirtschaft alleine bestimmt, sondern entspringen immer auch der Staatsraison. Julij Borisowitsch Andrejew, der Leiter der Liquidatoren-Einheit von Tschernobyl, fasste das Problem gemeinsamer Interessen im Gespräch mit der Taz zusammen: Was bei allen Unterschieden die Katastrophen von Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima verbinde, sei »die Schwäche der Regulierungsbehörde«. Die Nuclear Regulatory Commission der USA, das sowjetische Ministerium für Militärische Atomkraft und die Japanische Kontrollbehörde, alle seien auf verschiedenen Ebenen selbst stark mit den Betreibern verbunden gewesen. Das sieht in Deutschland kaum anders aus, und auch hier geht die Forderung nach Atomkraft zumeist mit der nach einem starken Staat einher, der ihr zwar den Weg freizuräumen, sich aber sonst aus ihren Belangen herauszuhalten habe. Hans-Werner Sinn etwa, der Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung, ist ein emsiger Verfechter der Atomkraft und bekennender Anhänger des Ordo­liberalismus, der autoritären Spielart des Neoliberalismus.
Letztlich mündet die unter liberalen Vorzeichen angestrebte Befreiung der Wirtschaft vom Staat in einer erneuten Verflechtung beider, diesmal nur zugunsten der Wirtschaft. In Japan gibt es bereits erste Pläne, den durch den Gau auch finanziell in Mitleidenschaft gezogenen Konzern Tepco mit Steuergeldern zu subventionieren. Das ist nicht ungewöhnlich. Geht es um den Schutz der nationalen Wirtschaft, agieren selbst gänzlich wirtschaftsliberale Staaten wie die USA protektionistisch. Was BP, Tepco und andere präsentieren, ist also das gegenwärtige Verständnis vom Zusammenspiel der Wirtschaft mit dem Staat. So holt sich die Wirtschaft den Souverän wieder ins Boot. Allerdings kam es dabei zu einer bemerkenswerten Umkehr der Formel Carl Schmitts: Der autoritäre Staat nutzt den Ausnahmezustand zur Ermächtigung, er konstruiert eine gesellschaftliche Krise, um das Prinzip der Legitimität auszuschalten. Der Konzern im Neoliberalismus ist dagegen bereits ermächtigt. In der Katastrophe ist es sein Hauptanliegen, den längst eingetretenen Ausnahmezustand zu kaschieren und dort einen Normalzustand zu simulieren, wo längst keiner mehr ist.