Scheißberlin

Berlin Beatet Bestes. Folge 89. Mavi Isıklar: »Kanaman« (1965).

Gestern Verwirrung auf dem U-Bahnsteig. Der eingesetzte Pendelverkehr wird nicht eindeutig angezeigt, und die Leute stehen rum und fluchen. In einiger Entfernung diskutiert ein junger Mann mit Wollmütze mit der Zugführerin. Nachdem der Zug abgefahren ist, kommt der Mann aufgebracht zurück: »Verdammte Schlampe! Warum sie so kalt?! Why is everybody always stressed out in Berlin?! Berlin is shit!« Er stellt sich neben mich, wahrscheinlich weil ich von meiner Zeitung auf­sehe und seinen Blicken nicht ausweiche. Er ist sehr aufgebracht, und ich kann mir schon vorstellen, wie ihn die strenge, unnachgiebige Art der Berlinerin provoziert hat. Auch ich musste mich, als ich vor 14 Jahren von Hamburg nach Berlin zog, erst mal an die preußische Sturheit gewöhnen. Das sage ich dann auch: »I bet she was not friendly but you have to get used to it. Berlin is a big city.« Das lässt er nicht gelten: »Berlin is a big city? It’s not a big city! I’m from Istanbul, a city of 20 million people. That’s a big city!« Als ich ihn darauf hinweise, dass ich auch in Istanbul gesehen habe, wie sich Leute auf der Straße prügelten, wird er richtig wütend. In der Türkei seien die Menschen warmherzig und würden miteinander reden, während die Berliner zugeknöpft und kalt seien. Er zeigt auf eine Gruppe von jungen Frauen: »Wenn ich diese Mädchen anspreche und frage: Wohin Zug? Sie nicht antworten. Why?« Als die U-Bahn kommt, steigen wir ein und unterhalten uns weiter. Noch immer will er sich nicht beruhigen. Ich gebe ihm die Hand und stelle mich vor. Er heißt Mehsut. Seit drei Monaten ist er in Berlin, um als Tänzer zu arbeiten, aber nichts scheint zu klappen. Er sagt, er habe zuletzt in Antalya gelebt, und da sei es perfekt. Berlin sei scheiße, und das erzähle er auch jedem, wenn er zurück in der Türkei sei. Seine Wut scheint eine Mischung zu sein aus den rassistischen Vorurteilen, denen er begegnet ist, seiner mangelnden Anpassungsfähigkeit und gekränktem Stolz, weil er sich von der Zugführerin (einer Frau!) gedemütigt fühlt.
Leider macht er auf mich auch nicht gerade den warm­herzigsten Eindruck. Ich befinde mich in der seltsamen Situation, meine Stadt verteidigen zu wollen, und sage: »Es tut mir leid, dass du so empfindest. Ich mag Berlin. Nicht alle Leute sind schlecht. Meine Freunde zum Beispiel sind alle nett.« Als wir uns verabschieden, ist er immer noch wütend.
Seit ich vor vier Jahren mit der Jungle World nach Istanbul gefahren bin, bin ich geradezu türkophil. Auf einigen folgenden Besuchen habe ich tolle Menschen und eine interessante türkische Popkultur kennen gelernt. Nach beharrlicher Suche fand ich auch diese Single der legendären Istanbuler Beat-Band Mavi Isıklar. Die Musik ist traditionell gefärbt, aber rockt auch – eine frühe gelungene Schnittstelle zwischen Orient und Okzident. Und coole Typen waren das auch. Wie hätte ihnen wohl Berlin gefallen?