Goodbye, Kibbuz
Das Knacken eines Lollies beim Draufbeißen ist das erste Geräusch im Film. Der 12jährige Dvir sitzt alleine im Heu und denkt nach. Er muss eine Entscheidung treffen. Ein Vorgriff auf den Schluss des Films. Dvir bekommt von seiner ersten Freundin einen ihrer letzten Notlollies geschenkt, die ihr der Vater aus Frankreich geschickt hat, zum Lutschen, wenn sie mal nicht mehr weiter weiß. Und die Entscheidung, die Dvir treffen muss, ist tatsächlich folgenschwer.
Szenenwechsel. Es ist Nacht, ein Mann legt seine Zeitung zur Seite, nimmt sich seine Uzi und erklärt, draußen patroullieren zu wollen. Ein schreiendes Baby ist zu hören, eine Frau macht sich an einem Kasten zu schaffen. Es gibt einen Lautsprecher und ein Dutzend Schalter, sie probiert aus, aus welchem Raum das Babyschreien kommt. Dann nimmt sie ein bereitstehendes vorgewärmtes Milchfläschchen, im Bild ist der Kasten zu sehen, man hört ihre tröstenden Worte. Ein Text wird eingeblendet: Wir sind in einem Kibbuz, wo die Kinder gemeinsam in einem Kinderhaus untergebracht sind und auch schlafen. Damit ihre Eltern nicht von der Arbeit abgehalten werden, heißt es im eingeblendeten Text, und damit ist das Thema des Filmes etabliert: Kindheit im Kibbuz. Im Film ist diese Kindheit etwas anderes als ein Aufwachsen in der Familie, und der Film interpretiert dies recht einseitig als Unterordnung unter das Dogma der Arbeitsproduktivität. Dabei ist »Sweet Mud« ein bewegender Film. Ein Manko: dass Kollektivität mit Kontrolle und Hierarchie gleichgesetzt wird, was sie auch sein kann, aber eben nicht nur. Solidarität und Gleichberechtigung kommen nicht vor.
Dvirs Mutter Miri lebt allein, ihr Mann ist tot, ein Unfall, sagen alle. Erst spät wird Dvir erfahren, was wirklich mit seinem Vater passiert ist. Davor muss er erleben, wie demütigend es für seine Mutter ist, auf dem Plenum zu beantragen, dass ihr Freund, den sie während einer Kur kennengelernt hat, sie besuchen darf. Vier Wochen seien zu lang, wirft ein Mann ein, schließlich würde der Gast versorgt werden müssen, aber nicht mitarbeiten. Aber Miri sei doch psychisch angeschlagen und habe so viel durchgemacht, wirft eine Frau ein. Dvir schaut durchs Fenster heimlich bei dieser Vollversammlung zu, er fühlt sich für seine Mutter verantwortlich.
Als Stephan, der Freund von Miri, im warmen Sommer 1974 zu Besuch kommt, lebt sie auf. Stephan hilft Dvir dabei, einen Drachen für den jährlichen Drachenflugwettbewerb zu bauen. Als Dvir sich darüber freut, dass er den Wettbewerb gewonnen hat, taucht Avraham auf, brüllt ihn an und wirft den Jungen zu Boden. Dvirs Hund war nicht angeleint, obwohl Avraham dies verlangt hatte, damit der nicht seine Hündin schwängert. Das ist aber wohl passiert, und Avrahams Zorn wird erst von Stephan gebremst, der ihm dabei den Arm bricht. Auf dem nächsten Plenum wird beschlossen, dass Stephan sofort abreisen muss, weil er gegen das Prinzip der Gewaltfreiheit innerhalb des Kibbuz verstoßen habe. Warum sich hier nicht andere für Stephan einsetzen, die dabei waren, als er nur Dvir helfen wollte, bleibt im Film unklar. Stephan reist ab, und der Kibbuz wirkt auf Miri erneut reglementierend, willkürlich, einengend. Avraham tötet auch noch Dvirs Hund. Miri weiß sich, außer sich vor Wut und Verzweiflung, nicht anders zu helfen, als Avraham im Stall mit der Mistgabel zu bedrohen, um ein Schuldeingeständnis zu erreichen. Zwei andere Kibbuzniks gehen dazwischen, Miri wird in die geschlossene Psychatrie eingeliefert. Als sie zurückkommt, ist sie lethargisch. Dvir ist überfordert und verzweifelt.
In der Schule bereitet er sich auf die Bar Mizwa vor, die Feier zum Ende der Kindheit um den 13. Geburtstag herum, die den Übergang in die Erwachsenenwelt symbolisiert. Bar Mizwa bedeutet Religionsmündigkeit und war ursprünglich ein Fest nur für Jungen. Seit 1922 gibt es auch die religiöse Bar Mizwa für Mädchen um den 12. Geburtstag. Aber in dem laizistisch orientierten Kibbuz geht es um anderes. Bei der Feier springen Jungen und Mädchen, wenn sie aufgerufen werden, aus fünf Metern Höhe auf ein Sprungtuch, stürmen im Laufschritt eine Zweimeterwand hoch, balancieren über einen Baumstamm, abends in feierlich von Fackeln und Feuer erleuchteter Umgebung auf einer Wiese. Die Eltern halten Reden darüber, wie arbeitsam und tüchtig ihre Kinder nun werden, welche Berufe sie ergreifen können. Miri verliert dabei die Fassung, ruft, sie sei traurig, als Mutter versagt zu haben, und er, Dvir, solle aus dem Kibbuz fliehen. Andere Kibbuzniks halten sie fest, wollen sie zum Schweigen bringen. In dieser Schlüsselsequenz des Films wird deutlich, wie sehr die militärische Konfrontation im Nahen Osten auch 1974 den Alltag dominierte. Du kannst Offizier werden, erklärt ein Vater in der Rede an seinen Sohn. Deutlich wird auch, wie sehr das Ideal von körperlicher Tüchtigkeit und der Arbeitsfetisch das Leben im Kibbuz geprägt haben. Psychische Labilität ist da ebenso ungern gesehen wie auf dem freien Arbeitsmarkt.
Für die Gründergenerationen der Kibbuzim war der Arbeitsfetisch zentraler Bestandteil ihrer Ideologie: sich pflügend das Land zu erschließen, Stadtbewohner und Intellektuelle in kräftige, sonnengebräunte Bauern und Bäuerinnen zu verwandeln. Über die Jahre haben die Kibbuz-Bauern unfruchtbares Land zum Erblühen gebracht – zum Teil mit massiver Bewässerung, die einen Raubbau an den Ressourcen bedeutet. Arbeit war und ist dabei ein absoluter Wert. Die Kritik am Arbeitsfetisch ist ein interessanter Erzählstrang in »Sweet Mud«.
Der Film zeigt auch, wie sich in fester Partnerschaft lebende Kibbuzniks heimlich mit anderen Partnern zum Sex treffen. Offensichtlich soll hier eine Doppelmoral illustriert werden, die für ein herkömmliches, patriarchal geprägtes dörfliches Sozialsystem charakeristisch ist. Eine Schlüsselszene zeigt, wie ein Lehrer sich auf den Feldern heimlich mit einer Erzieherin trifft. Während die beiden Sex haben, schaut der Lehrer nach der Kindergruppe von Dvir, die er bei der Erfüllung einer Aufgabe im Rahmen der Vorbereitung zur Bar Mizwa beaufsichtigt. Die Erzieherin bittet den Lehrer, sie zur Lehrerin zu befördern. Gleichzeitig wirft ihr der Lehrer im politisch-moralischen Jargon vor, sie sei »verantwortungslos«, weil sie kein Kondom mitgebracht habe. Dvir und ein anderer Junge nutzen die Gelegenheit und drehen die Lautsprecheranlage in dem vom Lehrer genutzten Transporter an. So ertönt die Internationale, was den heimlichen Sex stört. Diese Symbolik wirkt schief und unvermittelt, weil die politischen Ansprüche im Kibbuz nur angedeutet werden.
Die in »Sweet Mud« geübte Kritik an den sozialistisch orientierten, auf ein alternatives Wirtschaften ausgerichteten Kibbuzim ist keine Generalabrechnung mit der Kibbuz-Bewegung. Es ist die Aufarbeitung einer Kindheit im Kibbuz durch den Regisseur Dror Shaul. »Als ein Junge, der in einem Kibbuz geboren wurde und aufgewachsen ist, stellt sich mein Film einem kollektiven Gedächtnis entgegen, wonach der Kibbuz ein Raum der pittoresken Landschaften und magischen Düfte der Natur ist – mit meinen eigenen, privaten Erinnerungen, in denen Menschen einfach Menschen sind, unabhängig von der Ideologie, für die sie sich entscheiden, und die sich zuerst um ihre eigenen Bedürfnisse kümmern und erst dann um die Bedürfnisse der Schwächeren«, erklärt er. »Diesen Film zu machen, war ein langer und manchmal ermüdender Prozess, der dem des Heranwachsens, des Erwachsenwerdens ähnelte. Mein Ziel war es, einen Film über die Sehnsucht nach Wärme und Gefühlen zu machen, die Sehnsucht nach der Illusion, dass wir nicht tatsächlich allein sind.«
Miri hat es schwer im Kibbuz und kommt gegen die Meinungsführerinnen nicht an, die recht autoritär bestimmen, was »wir« in ihrem Kibbuz bedeutet, und die vermeintlich basisdemokratische Entscheidungen dominieren. Aber unzweifelhaft ist, dass Miri mit ihrer schweren Depression außerhalb der Kibbuz-Gemeinschaft völlig auf sich allein gestellt wäre und sich die Nachbarschaft in einem normalen Wohnhaus wohl nicht so um ihren 12jährigen Sohn bemüht hätte, wie dies im Kinderhaus und in den Alltagsabläufen des Kibbuz mit gemeinsamen Mahlzeiten und Festen der Fall ist. Gleichwohl ist in »Sweet Mud« zu sehen, wie Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen.
Die Kibbuzim sind der Inbegriff der frühen Aufbaujahre in Israel, als viele Israelis sich für eine sozialistische Gesellschaftsordnung einsetzten. Kibuzzim basieren auf gemeinschaftlichem Besitz, gemeinschaftlicher Verantwortung und Arbeit. Der Alltag war ursprünglich bestimmt von bäuerlichem, kollektivem Leben. Derzeit gibt es in Israel an die 270 Kibbuzim mit einer Größe bis zu 1 700 Einwohnern, die aber aufgrund der marktwirtschaftlichen Orientierung Israels um ihr ökonomisches Überleben ringen. Die staatliche Unterstützung für die Kibbuzim wurde stark reduziert. Zu Neugründungen kommt es nicht. Als Israel 1948 gegründet wurde, lebten acht Prozent der Israelis in einem Kibbuz, heute sind es zirka drei Prozent. In »Sweet Mud« wird ein schöner Gedanke von Karl Marx paraphrasiert: Jeder sollte »nach seinen Möglichkeiten geben« und »gemäß seinen Bedürfnissen erhalten«. Die Kibbuzgründer wollten sich wegen ihrer leidvollen Erfahrungen mit Kapitalismus und Antisemitismus einen jüdischen Arbeiterstaat auf eigenem Boden aufbauen. Sie kamen aus der zionistisch-sozialistischen Bewegung und setzten sich für eine klassenlose Gesellschaft ein, für Gleichheit und Solidarität. Die ersten Kibbuzim gründeten sie bereits in den Jahrzehnten vor der Gründung Israels im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina. Nach 1945 konnten viele Überlebende der Shoah nur heimlich nach Palästina einwandern. Die Briten hatten ein Einreiseverbot über Palästina verhängt, weil sie die Einwanderung von Kommunisten verhindern wollten. »Unter dem Vorwand, Flüchtlinge einzulassen, werden die Juden Palästina mit Kommunisten und sowjetischen Spionen überschwemmen, die gesamte britische Politik untergraben und die Region in einen Stützpunkt für die Russen verwandeln«, erklärte damals Hauptmann Roy Linklater von der Palästina-Abteilung des britischen Geheimdienstes in einem Bericht.
In den ersten Jahrzehnten spielte das Ideal der klassenlosen Gesellschaft im Lebensalltag der Kibbuzmitglieder eine große Rolle. Die Einzelnen besaßen kein Eigentum, sondern brachten ihre Arbeitsleistung für die Gemeinschaft ein. Statt Lohn stellte der Kibbuz Wohnung, Kleidung, Verpflegung, Bildung, Pflege und medizinische Versorgung zur Verfügung. Die Gleichberechtigung umfasste auch eine Rotation in allen wichtigen Ämtern und bei der Besetzung der Arbeitsplätze. Da ohne Befreiung aus der patriarchalen Geschlechterrolle Frauen nicht gleichberechtigt wären, wurden viele hauswirtschaftliche Aufgaben als Dienstleistungen vom Kibbuz angeboten. Es gab Wäschereien, Schneidereien und gemeinsame Küchen mit Speisesaal, der auch Zentrum des gemeinschaftlichen Lebens war. Die patriarchale Kleinfamilie sollte so aufgelöst, die Kindererziehung ebenfalls vergemeinschaftet werden. Die Kinder wurden in einigen Kibbuzim bereits als Säuglinge in einem eigenen Kinderhaus betreut. Im Laufe der Jahrzehnte entwickelten sich die Kinderhäuser zu Kinderläden, und die Eltern lebten mit ihren Kindern in einer Wohnung, einem kleinen Haus.
Seit einigen Jahren gibt es in Israel eine kritische Debatte über die Kindererziehung in den Kibbuzim. Auslöser waren kritische Wortmeldungen von Menschen, die im Kibbuz aufgewachsen sind. In einigen Büchern wird behauptet, die kollektive Kindererziehung im Kibbuz richte psychologische Schäden an, während andere Publikationen die Ansicht vertreten, dass Kibbuzkinder besonders selbständig und rücksichtsvoll seien. Im Presseheft wird die einseitige Sichtweise des Films auf die Erziehung im Kibbuz deutlich, wenn es heißt: »Mit ›Sweet Mud – Im Himmel gefangen‹ gibt es den ersten abendfüllenden Spielfilm, der wagt, das auszusprechen, was Generationen unglücklicher Kinder verdrängt haben.« Obwohl der Film 2006 beim Israeli Academy Award als bester Film ausgezeichnet wurde und 2007 auf der Berlinale den Gläsernen Bären und beim Sundance Festival den Jury Price gewann, wurde er im Feuilleton hierzulande kaum beachtet.
»Sweet Mud – Im Himmel gefangen« (Israel 2006). Regie&Buch: Dror Shaul. DVD: Absolut Medien