Die Ausstellung »Tier-Werden, Mensch-Werden« in Berlin

Wie man zum Tier wird

Die Berliner Ausstellung »Tier-Werden, Mensch-Werden« beschäftigt sich mit dem Zusammenspiel von animalischen und menschlichen Identitäten und versucht einen neuen Blick sowohl auf Tiere als auch auf Menschen. Das theoretische Fundament liefert dabei das Konzept vom »Tier-Werden«, wie es Deleuze und Guattari in »Tausend Plateaus« formuliert haben.

Der Schimpanse, der in der Berliner Ausstellung »Tier-Werden, Mensch-Werden« auf einem Sockel hockt, ist eine erbarmungswürdige Gestalt. Statt eines dichten Fells besitzt der Affe nur ein paar zerzauste Fellrestzottel. Der Körper ist fast nackt, und sein Blick geht gelangweilt ins Leere. Das an Kopf und Körper täuschend echt gestaltete Tier weist bei näherem Hinsehen aber auch ein paar Anomalien auf. Hände und Füße sind ihm montiert worden. Es sind menschliche Extremitäten, die ihm vielleicht bei einem Transplantantionsexperiment angenäht worden sind. Dazu würde dann auch die Spritze passen, die der Schimpanse in der einen Hand hält, mit der Nadelspitze auf den anderen Arm zeigend. Wahrscheinlich hat man ihm nach der Transplantation auch gleich noch beigebracht, sich die schmerzlindernden Immunsuppressoren, die die Abstoßungsreaktion des fremden Gewebes verhindern sollen, selbst zu spritzen.
Der Bildhauer John Isaacs, der den namenlos bleibenden Schimpansen aus Wachs geformt hat, lässt das Tier, mit menschlichen Versatzstücken versehen, dahin zurückkehren, wohin einst ein berühmter Vorgänger seinen menschlichen Lehrer geschickt hatte: ins Sanatorium. Der Schimpanse Rotpeter, der Protagonist in Franz Kafkas Erzählung »Ein Bericht für eine Akademie«, schildert in einer kurzen Szene seines langen Vortrags, was geschah, als der Kontakt zwischen Affe und Mensch die Grenzen zwischen den Arten ins Wanken brachte.
»Die Affennatur raste«, erzählt Rotpeter, »sich überkugelnd, aus mir hinaus und weg, so dass mein erster Lehrer selbst davon fast äffisch wurde, bald den Unterricht aufgeben und in eine Heilanstalt gebracht werden musste.« Bei Kafka konnte der menschliche Lehrer zwar »glücklicherweise«, wie der Affe meint, das Sanatorium bald wieder verlassen. In der Realität allerdings entdeckte die Wissenschaft den Affen damals als Versuchstier und begann, die Tiere in die Versuchsanstalten zu bringen. Als Kafkas Erzählung in der von Martin Buber herausgegebenen Monatsschrift Der Jude im November 1917 erscheint, ist Robert M. Yerkes, der Begründer der modernen Primatologie, so etwas wie der Chefpsychologe der amerikanischen Truppen im Ersten Weltkrieg. Yerkes beschäftigt sich auch deshalb mit den Affen, weil er nach einem Modellorganismus sucht, an dem sich Kriegspsychosen studieren lassen.
Es steht also bereits zu Beginn der Primatologie, jener Wissenschaft, die sich im weitesten Sinn mit allem beschäftigt, was mit Affen zu tun hat, die Frage nach menschlichen Problemen im Vordergrund. Und Kafka ist der erste Schriftsteller, der Tiergeschichten aus der Umgebung des modernen Labors erzählt. Damit ist Kafkas Text aus Sicht der Natur wesentlich genauer als viele andere so genannte realistische Tierschilderungen aus Hagenbecks Tierpark oder afrikanischen Landschaften, schreiben die Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrer 1975 in Paris erschienenen Studie »Kafka. Für eine kleine Literatur«.
Mit Kafkas Tiererzählungen, Isaacs’ Schimpansen-Skulptur und dem Philosophenduo Deleuze/Guattari hat man den Kontext benannt, in dem alle Exponate der Ausstellung »Tier-Werden, Mensch-Werden« stehen. Die Kuratoren Jessica Ulrich und Friedrich Weltzien beziehen sich ausdrücklich auf den von Deleuze/Guattari entwickelten Begriff vom »Tier-Werden«. Dies geschieht auf der Bild-, Text- und Kritik-Ebene. Wenn etwa Jana Sterbak in ihrer Videoinstallation »Waiting for High Water« Bilder von Venedig zeigt, die von drei Kameras gleichzeitig aufgenommen worden sind, werden dadurch auch die Grenzen des Begriffs vom Tier-Werden anschaulich. Sterbak hat die Bilder nicht aus der Menschenperspektive von einem Kameramann aufnehmen lassen, sondern ihrem Jack-Russell-Terrier namens Stanley drei kleine Videokameras am Kopf montiert. Venedig wird aus dem Blickwinkel des kurzbeinigen Terriers aufgenommen, die Bilder aber werden von einer Kamera aufgezeichnet, die von Menschen konstruiert und auf das menschliche Sehen zugeschnitten wurde. »Tier-Werden« bezieht sich hier also »nur« auf die durch die Körperhöhe des Terriers und die von vielen nervösen Kopfbewegungen bestimmte Kameraführung, nicht auf das, was der Hund tatsächlich sieht. Die Bilder sind keine Nachahmung der Sehgewohnheiten des Hundes. Es bleibt eine Differenz zwischen menschlichem und tierischem Sehen, die von der Künstlerin respektiert wird. Wie und was der Hund wirklich sieht, wird nicht gefragt.
Diese Distanz zwischen Mensch und Tier, die die Voraussetzung von Deleuze/Guattaris philosophischem Konzept des »Tier-Werdens« ist und die sie auch nicht aufheben wollen, wird in einem Aufsatz im Katalog zur Ausstellung dann allerdings infrage gestellt. In der deutschen Erst­übersetzung eines Kapitels aus Donna Haraways 2008 erschienenem Buch »When species meet« wird die These vertreten, dass Menschen und Tiere sich in ihren Begegnungen gegenseitig beeinflussen. »Und hat der Philosoph respondiert? Wenn Tiere den Blick erwidern«, ist das Kapitel im Katalog überschrieben. Am Beispiel der amerikanischen Primatologin Barbara Smuts, die jahrelang Paviane im afrikanischen Freiland beobachtet hat, beschreibt Haraway, wie sich mit der Erwiderung des tierischen Blicks auch die Wissenschaft selbst verändert. Smuts, die anfangs wie alle Forscher versuchte, sich gegen­über den Tieren so neutral und unsichtbar wie möglich zu verhalten, kam mit diesem Verhalten bei den Affen überhaupt nicht gut an. Soziale Signale, wie sie die Affen z.B. bei der Begrüßung aussenden, zu missachten, ist nämlich alles andere als ein neutrales Sozialverhalten. Smuts beschreibt sehr genau, wie sie lernte zu erkennen, wann sie den Affen genehm war und wann nicht. Ihre Arbeit, die Beobachtungen und Ergebnisse wurden so weitgehend von der Duldung durch die Affen bestimmt und nicht von den Erfordernissen der Wissenschaft.
Donna Haraway bezeichnet Smuts Arbeitsweise als eine Form des »Gemeinsam-Werdens«, die weit über das »Tier-Werden« bei Deleuze/Guattari hinausgeht. Hier habe sich ein Feld eröffnet, in dem sich die Spezies treffen.
Haraway definiert so die Grenzen des Begriffs »Tier-Werden«, unterschlägt aber, das die beiden Theoretiker diesen Vorgang vor allem als eine Schreibposition begreifen, den Begriff also viel abstrakter auslegen, als dies im Kontext der Tierforschung möglich ist. Ihren Begriff entwickeln sie zuerst im Kafka-Buch von 1975 und präzisieren ihn dann 1980 in ihrem Hauptwerk »Tausend Plateaus« in dem Kapitel »Intensiv-werden, Tier-werden, Unwahrnehmbar-werden …«. Schon die Aufzählung im Titel deutet an, dass »Tier-werden« nur eine Form eines allgemeiner gefassten Begriffs von »Werden« ist.
»Tier-Werden« versucht, von Melville über Kafka bis hin zu Deleuze/Guattari immer auch Fluchtlinien aufzuzeigen, mit denen man leben kann, ohne eine Utopie entwerfen oder auf die Erlösung hoffen zu müssen. In diesem Sinn entwirft der ganze Werden-Komplex bei Deleuze/Guattari auch eine Ethik. Freilich ist diese Ethik keine des Geistes oder gar des Denkens, sondern allein eine des Körpers. Es geht um das Tätigkeits- oder Trägheitsvermögen eines Körpers.
Der Denker, der das Verhältnis der zwischen den Körpern wirkenden Kräfte am besten begriffen hat, ist für Deleuze Spinoza. Der Gegensatz von Affizieren und affiziert Werden spanne das Machtgefüge auf, in dem man sich begegnet. Deleuze verweist auf die medizinische Bedeutung des Begriffs, nach der es sich auch um ein betrübendes, vergiftendes Verhältnis handeln könne. So wird aus Spinozas Ethik eine Ethologie, eine Verhaltenslehre, deren Begriffe eher physisch-chemischen und biologischen Ideen als geometrischen entspringen.
Und genau an diesem Punkt wird es heute, 30 Jahre nach dem »Tier-Werden« auf den Tausend Plateaus, wirklich kompliziert. Wie kompliziert, das zeigt die amerikanische Multimediakünstlerin Kathy High mit einer Arbeit, die den Titel »Trans-Tamagotchi« trägt und eine Art Gedenkstätte für drei transgene Ratten namens Matilda, Tara und Star darstellt. Was an diesen Ratten menschlich oder tierisch ist, lässt sich nicht mehr sagen. Die Installation beruht auf medizinischen Experimenten. Die Künstlerin kaufte drei Versuchsratten, denen die Disposition für spezifisch menschliche Krankheiten über die DNA »zugeführt« worden ist. Dann versuchte sie, den Ratten mit denselben alternativen Heilmethoden zu helfen, die sie bei sich – High leidet an einer Autoimmun­erkrankung – zur Selbsttherapie erprobte.
Hier, das zeigt die Installation, sind die Transformierungsprozesse zwischen Mensch und Tier untentwirrbar geworden. Angesichts einer durch Pharmaindustrie und Biotechnologie gestifteten Komplizenschaft zwischen Mensch und Tier muss der philosophische Begriff vom »Tier-Werden« im Sinne von Deleuze/Guattari notwendig scheitern. Es ist viel passiert in den vergangenen 30 Jahren, und die philosophischen Begriffe sind – trotz Donna Haraway – längst noch nicht auf dem Niveau der Zeit. Das gezeigt zu haben, ist ein Verdienst der Ausstellung. Das Denken hängt der Kunst noch nach.