Der Roman »Kaltenburg« von Marcel Beyer

Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter

Mit »Kaltenburg« ist Marcel Beyer ein durchdachter Roman über Verantwortung und Erinnerung gelungen.

Die Eingangsepisode von Marcel Beyers Roman »Kaltenburg« könn­te beklemmender kaum sein. Völlig verstört irren die Menschen, die sich vor der Bombardierung der Stadt Dresden im Februar 1945 im Großen Garten in Sicherheit bringen wollten, dort am nächsten Morgen umher. Auch Schimpansen und Orang-Utans aus dem zerstörten Zoo haben sich in diesen Park geflüchtet. Im Garten scheint die Grenze zwischen Kultur und Natur aufgehoben zu sein: Menschen und Affen eint der Schrecken. Gemeinsam beginnen sie, die Leichen auf einer Wiese zusammenzutragen. »Nichts wissen die Schimpansen von der Identifizierung verstorbener Angehöriger, nichts von den Toten, die man in einer Reihe im Gras bettet, und nichts davon, wie man einen Leichnam an Schultern und Füßen greift, um ihn zu seinesgleichen zu tragen. Und dennoch schließt sich ein Affe nach dem anderen dieser Arbeit an.«
Die Bombardierung Dresdens, ein gewagter Einstieg in einen Roman. »Kaltenburg« ist aber kein reines Werk über dieses Inferno, sondern ein Roman über die deutsche Geschichte von den dreißiger Jahren bis ins 21. Jahrhundert, der sich auch den konkurrierenden Erinnerungspolitiken vor und nach 1989 zuwendet. Dresden ist weniger Schauplatz einer Handlung als vielmehr ein Knotenpunkt von Erinnerungsfäden.
Im Zentrum stehen die eng aufeinander bezogenen Biografien zweier Ornithologen, Ludwig Kaltenburg, der offensichtlich Konrad Lorenz nachgebildet ist, und Hermann Funk, ein Schüler Kaltenburgs und zugleich der Ich-Erzähler. Der Roman besteht aus den Erinnerungen Funks an sein Verhältnis zu Kaltenburg. Diese sind eher chronologisch ungeordnete Bruchstücke, die er in Gesprächen mit der Übersetzerin Katharina Fischer zu sortieren versucht. Kaltenburg, der zunächst noch als verschrobener Vogelfreak eingeführt wird, wandelt sich dabei zusehends zur rätsel- und zweifelhaften Person. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebt er in Dresden, gelangt zu wissenschaftlichem Weltruhm und spricht ehrfurchtsvoll über Stalin. Den ruhmreichen Jahren steht aber ein Aufenthalt in Posen zu Beginn der vierziger Jahre gegenüber, während dem Kaltenburg nicht nur im Hause von Funks Eltern ein und aus geht, sondern vermutlich seine Wissenschaft in den Dienst rassistischer Forschungen stellt. Eine Zeit, die Kaltenburg in seinem Lebenslauf ausspart.
Während Kaltenburg für bewusstes Verschweigen steht, ist Funks Erinnerung unfreiwillig alles andere als zuverlässig. So kann er sich nicht mehr daran erinnern, wie es zum Zerwürfnis zwischen Funks Vater und Kaltenburg in Posen kam. Von einer »Todesatmo­sphäre« soll damals, als Funk noch ein Kind war, die Rede gewesen sein. Diese Erinnerungslücke aufzuklären, ist die Motivation für Funks Erinnerungsversuche.
Die Bedeutung der Erinnerungen konstituiert sich weniger über das, was erinnert wird, als vielmehr darüber, wie es erinnert wird. So verhält es sich auch in der oben beschriebenen Dresdner Episode. Es stellt sich hier die beunruhigende Frage, ob sich in Situationen existen­zieller Bedrohung so etwas wie Authentizität, gleichsam ein nicht von Kultur verstelltes Wesen des Menschen, zeigt. Eine düstere Phantasie, klingen in ihr doch Phantasmen der Eigentlichkeit und der Reinheit an.
Die Grundkonstellation ähnelt den Szenarien, wie sie Beyer bereits in seinen Romanen »Flughunde« und »Spione« entworfen hat. Ist es in »Flughunde« der in führender Position für die Nazis arbeitende Tontechniker Hermann Karnau, der in Tonbandaufnahmen, auf denen auch die Stimmen von zu Tode Gefolterten aufgezeichnet sind, eine Art authentischer Ur-Stimme sucht, so sind es in »Spione« die »Sporen« der Vergangenheit, die spürbar – aber letztlich nicht lokalisierbar – im Inneren der Familiengeschichte wuchern. Auch in diesen beiden Romanen, die zu den reflektiertesten deutschsprachigen Büchern über die Bedingungen des nachträglichen Sprechens über den Nationalsozialismus und die Shoah gehören, werden Szenarien der Authen­tizität vor allem entworfen, um sie haarklein auseinanderzunehmen.
Es ist zwar Kaltenburg, der in seinem Hauptwerk »Urformen der Angst« von den Vorkommnissen im Park berichtet. Erlebt hat er diese aber nicht, er beruft sich lediglich auf einen Zeugen. Dieser Zeuge ist Hermann Funk, der bei der Bombardierung seine Eltern verloren hat. Funk erzählt nach dem Krieg Kaltenburg von den Ereignissen, Kaltenburg verarbeitet sie später in seinem Buch, von dem Funk nun wiederum in seinen Erinnerungen berichtet. »Kaltenburg« wird so zu einer Beobachtungs- und Zeugenschaftsstudie, die in ihrer Komplexität auf einer Ebene mit W.G. Sebalds und Peter Weiss’ literarischen Entwürfen der Zeugenschaft steht.
Folgt man dem Literaturwissenschaftler Ulrich Baer, dann ist es gerade der kommunikative Akt zwischen dem Zeugen und einer anderen Person, in dem sich Zeugenschaft und damit Authentizität erst »ereignet«. Dieser Ansatz ist folgenreicher, als man zunächst annehmen mag, weil er eine Position für ethisch unzulässig erklärt, die für sich einen Standort »außerhalb« und damit einen Standort des Beobachters jenseits historischer Verantwortlichkeit reklamiert.
»Leben heißt beobachten« – diese drei Worte sind Kaltenburgs Credo. Dass in dieser Position des Beobachters eine Nähe zur Täterschaft angelegt ist, beweist seine Posener Zeit. Sie spiegelt sein vermeintlich harmloses Sprechen über die Vögel: Auch diese Wissenschaftlersprache bewegt sich in einem Idiom der Vernichtung. »Und denk immer daran, deine Vogelfunde sorgfältig zu vergiften«, bläut Kaltenburg Funk ein. Beyers Roman bringt die Vorstellung eines neutralen Beobachtens in Gefahr, und damit auch den Glau­ben, Wahrheit einfach beobachten zu können.

Marcel Beyer: Kaltenburg. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2008, 395 Seiten, 19,80 Euro