Die sozialen Folgen des Klimawandels in Harald Welzers »Klimakriege«

Notfalls mit Gewalt

Harald Welzer prognostiziert katastro­phale soziale Folgen des Klimawandels. Ebenso gut könnte er von den sozialen Folgen des Kapitalismus sprechen.

Schmelzende Gletscher und qualmende Schornsteine schmücken die Titelseiten von Magazinen, Cartoons mit traurigen Eisbären machen die Runde. Fotos von Überschwemmungen oder aufgeplatzter, trockener Erde illustrieren die Nachrichten über den Klimawandel. Neben den Umweltverbänden befassen sich Regierungen und Wissenschaftler damit. Kinder hören bereits in der Schule davon. Trotz alledem vertritt Harald Welzer in seinem Buch »Klimakriege« die Meinung, dass bislang niemand die Dimension des Klimawandels begriffen habe.
Das überrascht. Denn spätestens seit die Regierungen reicher Staaten erkannt haben, dass sie ein Problem haben, weil die fossilen Rohstoffe knapper – oder besser gesagt: teurer – werden, ist der Klimawandel zum großen Thema geworden. Auch wenn das mehr mit der kapitalistischen Kosten-Nutzen-Rechnung und der Angst um die eigene Energieversorgung zu tun hat als mit der Sorge um die öko-sozialen Folgen in der Welt.
Kein Wunder, dass Nicholas Stern, der ehema­lige Chefökonom der Weltbank, im vorigen Jahr berechnen ließ, was die Wirtschaft teurer zu stehen komme: die Folgen des Temperaturanstiegs oder die Kosten dafür, die weitere Erwärmung zu verlangsamen. Letzteres sei eindeutig billiger zu haben, lautete das Ergebnis.

Welzer geht es indes weniger darum, wie sich das Verbrennen fossiler Stoffe genau auf das Klima, auf das Wetter und die Höhe des Meeresspiegels auswirkt. Sein Blick ist auf das Soziale gerichtet. Als Beispiel dient ihm der Hurrikan Katrina in New Orleans im Jahr 2005: Die reichste Gesellschaft der Erde sah sich wegen der noch relativ überschaubaren Katastrophe genötigt zu prüfen, ob der Kriegszustand ausgerufen werden müsse. Die Gouverneurin von Louisiana wies die Nationalgarde an, auf »Plünderer« zu schießen.
»Nicht gut« werde die Sache mit dem Klimawandel ausgehen, lautet Welzers düstere Prognose. Seine Folgen würden nicht nur bislang ungekannte Verhältnisse etablieren, sie würden auch das Ende der Aufklärung und der damit verbundenen Vorstellung von Freiheit bedeuten. Der Kli­mawandel und die daraus resultierenden »gefühlten Probleme«, so prophezeit er, würden die Menschen zu »radikalen Lösungen« greifen lassen, an die sie zuvor nie gedacht hätten.
Welzer, der sich zuvor mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus in deutschen Täterfami­lien beschäftigt hatte, bemängelt in seinem Buch in erster Linie zwei Punkte. Erstens seien die Anstrengungen von Regierungen und Privatpersonen, den CO2-Ausstoß zu reduzieren, mangelhaft und würden dem drängenden Problem in keiner Weise gerecht. Tatsächlich sinken die C02-Emmis­sionen allen internationalen Abkommen und Protokollen zum Trotz nicht, sondern sie steigen an. Und das, obwohl die Diskussion darüber, welche schädlichen Folgen das Verbrennen fossiler Stoffe hat, bereits Ende der siebziger Jahre begann. »Was sich in den vergangenen 30 Jahren verändert hat, ist das Problembewusstsein, nicht das Problem«, schreibt Welzer.

Sein Stichwort dazu heißt »Dissonanzreduktion«. Das bedeutet, ich versuche mein moralisch vertretenes oder gesellschaftlich gefordertes Verhalten mit meinem tatsächlichen Handeln in Einklang zu bringen. Menschen passen sich den veränderten Umweltbedingungen an oder reagieren auf die entsprechenden Diskurse, in unterschied­lichster Weise. Touristen fliegen mit schlechtem Gewissen in den Urlaub. Hausbesitzerinnen erset­zen herkömmliche Glühbirnen durch Energiesparlampen. Autofahrer kaufen häufiger Gelände­wagen und Sportautos, weil die Zeit der PS-starken Modelle bald vorbei sein könnte.
Die Möglichkeiten, Dissonanzen zu verringern, seien vielfältig, schreibt der Sozialpsychologe Wel­zer. Diese »merkwürdige Fähigkeit von Menschen, sich durch Widersprüche im eigenen Verhalten nicht irritieren zu lassen«, führe da­zu, dass sie den Klimawandel nicht unbedingt verdrängten, dass aber ihre Schlussfolgerung rein gar nichts mit dem Problem zu tun haben könne. Deshalb müsse man das Problem der sozialen Katastrophe Klimawandel drastisch und deut­lich schildern. Dies soll auch eine Gewöhnung an Verhältnisse verhindern, die sich bei Licht betrachtet, nicht schleichend, sondern brachial verändern.
»Frontex ist da nur ein unscheinbarer Vorbote«, schreibt Welzer. Hätte man es vor einigen Jahren für möglich gehalten, dass europäisches Militär vor Westafrikas Küsten patrouillieren würde und über Jahre hinweg Tausende Menschen auf dem Weg nach Europa ertrinken? Und das in Zeiten der Satellitentechnik, mit der jede noch so kleine umhertreibende Piroge entdeckt und gerettet werden könnte? Das führt Welzer zum zweiten zen­tralen Punkt in seiner Argumentation: Die Bezugs­rahmen verschöben sich (»shifting base­lines«). So zeigten sich junge Fischer am Golf von Kalifor­nien weit weniger besorgt über die schwindenden Fischbestände als ihre älteren Kollegen, weil sie viele Arten und Vorkommen schlicht nicht mehr kennen.

Welzer kritisiert, dass der Klimawandel als Na­tur­katastrophe betrachtet werde. Die Auswirkungen auf die Menschen und das gesellschaft­liche Zusammenleben blieben völlig unterbelichtet. Auch die Ungleichheit zwischen dem reichen Nor­den und dem armen Süden werde bei den Lösungsstrategien kaum berücksichtigt. Er be­schäf­­tigt sich deshalb mit der Frage, wie Gesellschaften in Zukunft mit den zu erwartenden Über­schwemmungen, Dürren, Hungersnöten und Krankheiten umgehen werden. »Für die damit ver­bundenen Probleme gibt es gegenwärtig so wenig Lösungen wie für die der globalen Ungleichheit und Ungerechtigkeit«, konstatiert Welzer, der das Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen leitet.
»Der Blick auf den Sudan ist ein Blick in die Zukunft«, so Welzer. Zwar sieht er neben den Dürren, die das ostafrikanische Land in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat, auch noch andere Konfliktursachen für die herrschende Gewalt. Trotzdem bezeichnet er den dortigen Bürgerkrieg als »ersten Klimakrieg«.
Die Annahmen des Wissenschaftlers sind nicht so schlicht, wie es in manchen Interviews und Besprechungen den Anschein hat. Er behauptet keineswegs, dass die Konkurrenz um Trinkwasser, Ackerland oder bewohnbare Landstriche zwangs­läufig zu Gewalt führen wird. Selbstverständlich gebe es immer wieder auch konstruktive Methoden, wie Konflikte vermieden oder ausgetragen würden.
Doch die Geschichte der Moderne habe schon eine Menge extremer Lösungen für »gefühlte Pro­bleme« hervorgebracht, schreibt Welzer. »Welche Lösungen werden in einigen Jahren für möglich gehalten, die uns heute noch als ganz undenkbar erscheinen?« Gewalt sei immer eine Option, das lehre die Geschichte. Warum sollte etwas »nie wieder« geschehen, wo doch zahlreiche Beispiele zeigten, dass Menschen noch die radikalsten Abweichungen vom humanistischen Denken sinnvoll finden und in vertraute Konzepte integrieren können, fragt Welzer.
Dass er einen wichtigen Aspekt des Problems benennt und Gedanken aus verschiedenen Disziplinen und Quellen zusammenbringt, macht sein Buch interessant und lesenswert. Er befasst sich mit dem Kolonialismus und der militärischen Flüchtlingsabwehr, macht Ausflüge auf die Osterinsel und nach Ruanda und kritisiert, wie die Prognosen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) zustande kommen.

Manche Punkte mögen für sich genommen so neu nicht sein. Etwa, dass sich die Formen der Kriege ändern, dass reiche Staaten Gewalt in andere Regionen delegieren, dass Hilfsorganisationen oft Teil einer Gewaltökonomie sind. Erhellend ist aber, dass er verschiedene inhaltliche Stränge – Migration, Wissenschaftskritik, Gewalt, Umweltveränderungen – verknüpft. Und die raren linken Klimaforscher können zumindest auf dem Gebiet der Sozialpsychologie von Welzer lernen.
Doch am Ende bleibt die Frage, ob es wirklich der Klimawandel ist, der uns all die schrecklichen Dinge befürchten lässt. Vielleicht verschärfen andere Umweltveränderungen die bestehenden Konflikte noch viel mehr? Oder die Konkurrenz auf dem Weltmarkt? Möglicherweise könnte man Welzers Fragestellung auch schlicht so formulieren: Wie hängen der Zwang, die Arbeitskraft verkaufen zu müssen, Geld zum Leben zu verdienen, die Natur auszubeuten, sie in Wert zu setzen und möglichst viel Profit zu erzielen, mit Gewalt zusammen? Das Wort »Kapitalismus« taucht bei Welzer aber nicht auf.

Harald Welzer: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert ­getötet wird, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 321 Seiten, 19,90 Euro