God did it

Im Sommer 2005 flüchtete die Bevölkerung von New Orleans vor dem Hurrikan »Katrina«. Tausende, hauptsächlich schwarze Mieter von Sozialwohnungen mussten die Stadt für immer verlassen. Als das Wasser wich, zogen die Behörden Zäune um ihre Häuser, verrammelten Türen und Fenster und stellten Polizisten vor die Eingänge. Die Bewohner, die heute ver­streut in Städten wie Houston und Baton Rouge leben, sollten nicht zurückkehren. Ihre Häuser wären bewohnbar, doch schon seit langem wollen Regierung und Immobilienfirmen die Sozialwohnungsviertel der Stadt abreißen, um darauf subventionierte mixed-income-Quartiere zu errichten. Erster Teil einer Reportage von christian jakob und friedrich schorb (text und fotos)

Zwei Tage beobachteten die Piloten der Armee­hubschrauber den steigenden Wasserstand im Norden von New Orleans, als nach dem Hurrikan »Katrina« die Deiche des Lake Pontchartrain brachen. Immer wieder überflogen die Helikopter dabei auch das St. Bernard Project, eine der größ­ten Sozialwohnungsanlagen der Stadt. Am dritten Tag konnten sie dabei zusehen, wie Hunderte Bewohner auf den Dächern von St. Bernard es aufgaben, ihnen zuzuwinken, und begannen, in Kühltruhen und gestohlenen Booten zu einer nahe gelegenen Autobahnbrücke zu rudern.

In einem der Boote saß die 58jährige ehemalige Krankenschwester Sharon Jasper mit zwei ihrer Enkelkinder. Als sie die Autobahnbrücke erreichten, landeten die Hubschrauber und flogen sie und ihre Nachbarn in den Vorort Metairie.

»Es waren Herzkranke und Schwangere dabei, aber es gab keine Medizin und nichts zu essen«, sagt Jasper. Als endlich ein Bus kam, um sie zu evakuieren, habe niemand gewusst, wohin er fährt. »Es hieß nur: ›Rein!‹, sonst haben sie uns nichts gesagt. Letztlich war es uns aber auch egal.« Jasper wachte im Cajun-Dome-Stadion in Lafayette, Louisiana, auf und dachte, das Schlimms­te sei vorüber.

Das eindringende Wasser hatte große Teile von New Orleans überflutet, viele der knapp 500 000 Bewohner wurden evakuiert. Bis heute sind höchs­tens 300 000 davon zurückgekehrt, die meisten von ihnen haben weiße Hautfarbe. Fast die Hälfte der Bewohner von New Orleans ist nun weiß, vor dem Sturm war es nicht mal ein Drittel.

Die Katastrophenschutzbehörde Fema brachte Sharon Jasper und ihre Kinder in einer kleinen Wohnung in Houston unter und gab ihr 2 000 Dol­lar Soforthilfe. Über 100 000, meist afroamerikanische Katastrophenopfer wurden in die texanische Stadt gebracht. Die Fema begann, befristete Mietgutscheine – so genannte Vouchers – auszuteilen, deren Gültigkeitsdauer immer wieder verlängert wurde, zuletzt bis 2009. Die Bewohner Houstons waren nicht begeistert von der neuen Nachbarschaft. Die große mexikanische Minderheit dort fürchtete die Konkurrenz der »Katrina«-Opfer auf dem Niedrig­lohn­sektor. »Ich kenne einen Jungen, dem haben seine Klassenkameraden angedroht, ihn umzubringen, weil er als Flutopfer neu in die Klasse kam«, sagt Jasper. Sie wollte zurück.

Nach langem Drängen bewilligte die Fema ihr und ihren Kindern den Umzug in ein Einfami­lien­haus in New Orleans. Im Februar 2006 kaufte Jasper sich ein Busticket und wagte die achtstündige Reise nach Louisiana. Sie wollte ihre Wohnung ansehen und einige der Sachen holen, die sie bis zu ihrer endgültigen Rückkehr nach New Orleans noch brauchen konnte. Ihre Wohnung lag im ersten Stock. So hoch, das wusste sie, war das Wasser nicht gestiegen. Jasper rechnete sich gute Chancen aus, ihr Hab und Gut einigermaßen brauchbar vorzufinden.

Das St. Bernard Project ist ein zwei Quadrat­kilo­meter großes Sozialwohnungsquartier, auf halbem Weg zwischen dem berühmten French Quar­ter am Mississippi und dem Lake Pontchar­train. Etwa 70 zwei- bis dreistöckige Gebäude aus solidem, dunkelrotem Backstein beherbergen gut 1 400 Wohnungen. Als der Sturm kam, gab es in New Orleans acht solcher Projekte, meist aus der Zeit des New Deal in den dreißiger Jahren. In 11 700 Sozialwohnungen haben etwa 30 000 ausschließlich schwarze Menschen gelebt. Ein Viertel dieser Wohnungen wurde durch den Sturm zerstört. Doch die vier größten Sozialquartiere mit 5 000 weitgehend intakten Wohneinheiten wurden von der Wohnungsbehörde abgeriegelt.

Als Sharon Jasper nach St. Bernard zurückkehrte, sah sie, dass das gesamte Gelände von Zäunen und Stacheldraht umgeben war. Fenster und Türen waren mit fest verdübelten, grau lackierten Stahlplatten verrammelt. Überall hing eine amtliche Verfügung der Hano, der Wohnungsbehörde von New Orleans: »Sie werden hiermit aufgefordert, den Grundbesitz der Hano unverzüglich zu verlassen und nicht ohne vorherige Genehmigung zurückzukehren«, stand darauf. Bei Zuwider­handlung wurde strafrechtliche Verfol­gung angedroht: Räumung, Inhaftierung wegen Hausfrie­densbruchs, Erlöschen jedes Anspruchs auf zukünftige Unterstützung. Und noch eine Mit­teilung hing am Zaun: Wer seine Habe aus dem Project holen wolle, der möge sich 72 Stunden vorher telefonisch bei der Hano melden. Die Public Housing Projects in New Orleans sollten verschwinden.

Der republikanische Kongressabgeordnete Richard Baker sprach es kurz nach dem Sturm offen aus: »Schließlich haben wir mit dem Public Housing in New Orleans aufgeräumt. Wir schafften es nicht, aber Gott schaffte es.«

Das vermeintliche Werk Gottes hat eine lange politische Vorgeschichte. Zur Zeit Ronald Reagans beschlossen die Republikaner, die in vielen amerikanischen Großstädten stehenden Sozialbauten niederreißen zu lassen. Public Housing galt als Hort der Kriminalität. Susan Popkin, eine Stadtforscherin am Washingtoner Urban Institute, hat in mehreren Studien Public Housing Projects untersucht. Ihr Fazit lautet: Das Risiko, erschossen zu werden, sei für die Bewohner von Public Housing doppelt so groß wie für die Bewohner einer vergleichbar armen afro­ame­rikanischen Siedlung. Im Public Housing aufzuwachsen, komme einer Jugend in einem Kriegsgebiet gleich.

Nachbarn von Sharon Jasper, die bereits im November nach St. Bernard zurückgekehrt waren, berichten, dass die Hano zunächst den Strom abklemmte, im Dezember 2005 das Wasser abstellte und im Februar 2006 die Polizei schickte. Sie räumte die Hand voll Bewohner, die wieder begonnen hatten, sich in ihren Wohnungen einzurichten. Dann kamen der Zaun und die Stahlplatten. »Ich habe immer wieder bei der Hano angerufen, damit sie aufschließen und ich meine Sachen holen kann. Nie habe ich eine Antwort bekommen«, sagt Jasper.

Eigentlich wollte sie mehr von der Hano als nur ihre Sachen: Sie wollte ihr altes Leben zurück – und dazu gehörte ihre alte Wohnung. Etwas anderes hat die wegen diverser Erkrankungen berufsunfähige Afroamerikanerin nie kennen gelernt. »Alle denken, dass Public Housing ein Ort für faule Leute ist. Meine Eltern aber haben immer hart gearbeitet. Sie haben uns immer gut ernährt und uns die Werte vermittelt, an die sie geglaubt haben.«

Jaspers Vermutung über die öffentliche Meinung trifft zu. Die sich um die Sozialquartiere abspielende Kriminalität ist nicht der einzige Grund, weshalb Public Housing der Politik schon seit den achtziger Jahren ein Dorn im Auge ist. Das Leben in den homogenen Sozialghettos, abseits der Mehrheitsgesellschaft, gilt vielen So­zialpolitikern als Ursache für eine Art kulturelle Unfähigkeit, im regulären Erwerbsleben Fuß zu fassen. Inspiriert von den neoliberalen Soziologen der Chicago School, hat sich die Vorstellung breitgemacht, dass eine Sozialisation im Public Housing typische Verhaltensmuster erzeuge, die den Schritt in eine »reguläre Erwerbsbiografie« behinderten.

»In meiner Wohnung gab es keine Kakerlaken«, sagt Jasper. »Ich hatte Glastüren, schöne Möbel, Gardinen, Kerzenleuchter, einen Plasma-Fernseher und sogar ein großes Bett mit Stufen.« Wahrscheinlich, so glaubt sie, hätte niemand eine solche Wohnung im Public Housing erwartet, »so war es aber«. Jasper und ihre Nachbarn waren nicht die einzigen, die von der Hano ausgesperrt wurden. Von acht zur Zeit vor »Katrina« bewohnten Public Housing Projects machte die Flut nur zwei unbewohnbar. Im Iberville Project, das über­haupt nicht überflutet wurde, öffnete die Hano etwa ein Drittel der Wohnungen, als die Mieter wieder vor der Tür standen. Fünf weitere Projects blieben zunächst völlig geschlossen. Nach Angaben von Mietrechtsexperten des Hilfswerks Common Ground Relief in New Orleans verweigert die Hano ihren ehemaligen Mietern den Wiederbezug von rund 5 000 Apartments. Als Jasper zurück war, tat sie sich mit einigen ihrer ehemaligen Nach­barn zusammen. Im  Januar besetzten einige hun­dert ehemalige Bewohner des St. Bernard Project ihre alten Wohnungen. Sie begannen, den Schimmel und Müll zu beseitigen, der sich in der Zwischenzeit ausgebreitet hatte.

»Die Polizei ist dann zusammen mit Angestellten der Hano aufgetaucht und hat uns gesagt, dass wir verschwinden müssten. Eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs, wie sie mir zunächst angedroht hatten, habe ich aber nicht bekommen. Dafür haben sie uns wegen Sachbeschädigung und Vandalismus angezeigt – weil wir die Schlösser aufgebrochen und Löcher in die Zäune ge­schnit­ten haben«, erzählt Jasper. Die Besetzer blieben und putzten weiter. Vier Tage lang.

Zwischendurch besuchte sie eine demokratische Kongressabgeordnete, die einen Gesetzentwurf vorbereitete, um die Regierung in Washington zu zwingen, die Projects in New Orleans wieder zu öffnen. Der Entwurf wurde im März dieses Jahres vom Kongress mit großer Mehrheit angenommen, seitdem jedoch nicht vom Senat bestätigt.

In der vierten Nacht schickte die Hano ein Swat-Team der Polizei von New Orleans, was ungefähr einem deutschen Spezialeinsatzkommando entspricht. Dieses warf die Besetzer hinaus und die Löcher im Zaun wurden repariert. Gegen die Hano erhebt Jasper schwere Vorwürfe: »Das Haus wurde von Arbeitern der Hano geplündert und verwüstet. In meinem Apartment war gar kein Wasser. Trotzdem sieht es überall ganz schlimm aus. Alles, was irgendeinen Wert hatte, ist weg.« Soleil Rodrigue, Mietrechtsexpertin bei Common Ground Relief, bestätigt dies: »Die Hano-Arbeiter haben in vielen Wohnungen einfach angefangen, Fakten zu schaffen und sie auszuräumen. Persönliche Gegenstände der Mieter landeten auf dem Müll.«

Bereits vor »Katrina« war die Hano berüchtigt für ihre ineffiziente Verwaltung. Etwa 3 000 Fami­lien befanden sich auf der Warteliste für die freien Apartments – trotz hohen Leerstands. Doch einmal eingezogen, lebte man lange in einem solchen Project. Der durchschnittliche Sozialmieter wohnte in New Orleans seit 17,5 Jahren in seinem Apartment. In den USA, wo es für viele Arbeiter normal ist, alle paar Jahre umzuziehen, waren die Projects geradezu ein Inbegriff von Bodenständigkeit. Oft siedelten sich die Kinder der Bewohner im selben Block, in derselben Straße an. In ein anderes Project zu gehen, kam meist nicht in Frage.

Das Quartier wurde zur Heimat, zur ideellen Großfamilie. Die Project Communities, geprägt von realen Verwandtschaftsbeziehungen und in langjähriger Nachbarschaft gewachsen, waren Schutzraum für die Schwarzen am Rande der Gesellschaft. Mochten sie auch auf der untersten Stufe des amerikanischen Sozialgefüges stehen – in der eigenen Welt des Sozialbauviertels ließ sich dies viel leichter ertragen. Informelle Netzwerke und Schattenwirtschaft boten die ökonomischen Perspektiven, die ihnen von der regulären Wirtschaft verweigert werden.

»Als ich in St. Bernard gewohnt habe, habe ich immer frozen cups gemacht«, eine Art selbst gemachtes Eis in Plastikbechern, »und sie aus dem Fenster einer Wohnung im Erdgeschoss heraus verkauft«, sagt Jasper. So hat sie sich etwas dazuverdient. »Ich hatte einen richtigen kleinen Laden. Außer den cups gab es bei mir noch Bonbons, Eis, Zigaretten, Feuerzeuge und so weiter. Eigentlich war das verboten, weil ich ja arbeitsunfähig bin, aber das ist nie herausgekommen.« Ein großes Problem, sagt sie, seien die Schikanen der meist weißen Polizei gegenüber den schwarzen Bewohnern gewesen. »Ich selber bin immer ganz gut damit fertig geworden, aber für Jüngere war es oft schlimm.« In ihrem Laden habe sie immer eine Videokamera gehabt. »Oft haben die Leute mich aus dem Laden geholt, wenn die Polizei draußen kontrolliert hat, und ich habe sie dann gefilmt.«

Dass die Polizei ein häufiger Gast war in St. Ber­nard, kommt nicht von ungefähr. Untersuchungen des FBI zufolge gab es in New Orleans in den Jahren vor »Katrina« die mit Abstand meisten Morde in den USA. Fast 60 Morde auf 100 000 Ein­wohner zählte die Polizei, acht Mal so viele wie in New York. Nach »Katrina« hat sich die Mord­rate knapp verdoppelt – obwohl die Projects fast alle geschlossen sind.

Malik Rahim hat 1970 in einem anderen So­zial­wohnungsquartier der Stadt die erste Zelle der Black Panther Party in Louisiana gegründet. Damals haben sie versucht, den Drogenhandel aus den Projects fernzuhalten – und die ­gewalt­tätige Polizei. Über die Jahre habe sich nichts geändert: »Außer ein paar Basketballspieler und Hip-Hop-Musiker, die man an einer Hand abzählen kann: Die Schwarzen, denen es gelungen ist, aus den Projects herauszukommen, haben das alle mit Drogenhandel geschafft«, sagt Rahim.

Die Bewohner haben sich an die Gewalt gewöhnt wie an die Wirbelstürme im Spätsommer. Martha Johnston* hat 40 Jahre in St. Bernard gelebt, am Ende mit ihren fünf Kindern. Mit ihrem Fema-Voucher konnte sie eine Wohnung in einem teilweise wieder eröffneten Project in New Orleans ergattern. Das Apartment sieht genauso aus wie ihr altes in St. Bernard. Die Tür öffnet ihr Enkel, ein dicker Junge von allerhöchstens 14 Jahren, der eine klobige, schwarze, elektronische Fußfessel um den Knöchel trägt. Der Ort gefällt ihr nicht. »Das sind nicht meine Leute«, sagt sie. Sie meint die Nachbarn.

Als ihr erstes Kind geboren wurde, hat Johnston das einzige Mal in ihrem Leben außerhalb von St. Ber­nard gewohnt, bei dem arbeitslosen Vater ihres ersten Kindes in einem anderen Schwar­zen­viertel. »Er hat immer auf mich geschossen, wenn er trank. Immer in die Wand neben mir, um mir Angst zu machen. Am Ende war das ganze Haus voller Löcher.«

Irgendwann hat sie ihr Baby genommen und ist zurück nach St. Bernard, zu ihrer Mutter. Nach einigen Tagen stand er vor ihrer Tür. »Ich habe ihm gesagt: ›Ich bin von hier und du kannst nicht hierherkommen und mir Ärger machen. Jeder kennt mich hier, und wenn du mir Ärger machst, dann geht es dir schlecht‹.« Er kam immer wieder, und als er eines Abends ihre Tür eintrat, habe sie sich im Schlafzimmer eingeschlossen und nur noch die Stimmen der Nachbarn gehört: »Den holen wir uns jetzt.« Später, so sagt sie, habe die Polizei dann seine Leiche vor dem Haus aufgefunden. »In St. Bernard ist meine Community und meine Geschichte. Ich habe gute Kinder, sie gehen aufs College und ich habe sie in St. Ber­nard erzogen. Ich will dahin zurück.« Sie klingt, als habe sie sich mit ihrer ehemaligen Nachbarin Sharon Jasper abgesprochen.

*Name geändert