Tanz den William Shatner!

Das Buch »Disco Extravaganza« stellt die obskursten Außenseiter der Musikwelt vor. von benedikt köhler

Man musste lange warten. Endlich gibt es ein deutschsprachiges Buch über die »Außenseitermusik«. In den USA ist diese Musik in Radiosendungen, Compilations und vor allem den Standardwerken »Incredibly Strange Music« von Vivian Vale und Andrea Juno sowie »Songs in the Key of Z« von Irwin Chusid einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. In Deutschland fehlten bisher vergleichbare Werke. An musikalischem Material herrscht dabei kein Mangel. Schließlich hat die Bundesrepublik den wirklich unglaublich selt­samen Musiker Heino hervorgebracht, der im Übrigen von Vale und Juno auch gewürdigt wurde.

Wer aber Jens Raschkes »Disco Extravaganza« mit der Erwartung liest, Neues über ausschließlich deutsches obskures Liedgut zu erfahren, wird enttäuscht. Nur fünf der 38 dargestellten Künstler, nämlich Jo­seph Beuys, Joe Francis Schweiger, Lolli­pop, Hansadutta Swami und Paul Ber­nard, sind der deutschen Szene zuzuordnen, wäh­rend die meisten aus den USA kommen. Zum Teil mag das daran liegen, dass einige der behandelten Spielarten wie das Song-Poem (John Trubee), der antikommunistische Protestsong (The Corillions) oder der Spacepop (The Legendary Stardust Cowboy und Lucia Pamela) vor allem aus den USA stammen. Dennoch wird so eine Möglichkeit vertan, die deutschsprachige Outsidermusik eingehend zu betrachten.

Die Schwachstelle des Buchs ist aber die Haltung des Autors zum Gegenstand. Wie man der Außenseitermusik begegnen kann, hat Chusid vorgemacht. Er schreibt, dass der erste Kontakt zu solchen Songs vom Gefühl einer unfreiwilligen Komik geprägt sei. Doch wenn man es überwunden habe, entstehe ein »je ne sais quoi that transcends laughter«. Chusid fordert also dazu auf, hinter der offensichtlichen Skur­rilität eine schwer beschreibliche Eigenschaft zu suchen, die dann einen ästhetischen Wert begründen kann.

Diese Musik verweigert sich zwar den herkömmlichen Standards für Harmonie, Melodie und Rhythmik, steht aber nicht jenseits aller Qualitätsmaßstäbe. Es mögen zwar andere sein als in den gängigen Genres, aber ein Kenner seltsamer Musik sollte beurteilen können, ob es sich um gute Außenseiterkunst handelt oder schlechte.

Eigentlich sollte es neben der Unterhaltung, die ein derart irrwitziges Sujet mit sich bringt, auch Aufgabe eines solchen Buchs sein, Bewertungen dieser Art zu ermöglichen und dem Gegenstand mit der dazugehörenden Offenheit zu begegnen. Bei Raschke scheint dieser Aspekt nur in einigen wenigen, mit Sympathie geschriebenen Episoden auf: etwa im Fall des Porno­sängers John Trubee, der selbst ein hohes Maß an Souveränität und Realismus besaß, oder in der Episode zur Portsmouth Sinfonia, die mit Brian Eno und Michael Nyman bekannte und vor allem renommier­te Musiker aufwies. Der Rest der Beschrei­bungen bleibt in einer fast zynischen Distanz zu den Stücken und Künstlern, so z.B. in der Bezeichnung des Verbrennungs­opfers Merrill Womach als »Gottes einsams­tes Stück Hack«, und scheut vor der Herausforderung zurück, in den Niederungen der Unterhaltungsindustrie nach Trans­zen­denz zu suchen.

Doch auch Raschke verfährt nicht ohne Maßstäbe, um festzustellen, ob ein Künst­ler dem Genre zuzuordnen ist. Leider fehlt eine theoretische Einführung, wie sie »Incredibly Strange Music« oder »Songs in the Key of Z« vorangestellt ist. Einen ersten Zugang zu den Bewertungskriterien liefert jedoch die Gliederung des Buchs in sechs Kapitel. Abgehandelt werden Prominente mit einer zweiten, musikalischen Karriere, überraschend oder nur in ihrer eigenen Wahrnehmung erfolgreiche Amateurmusi­ker, singende, ältere Damen unter der Rubrik »Jenseits der Menopause«, religiös motivierte Künst­ler, popmusikalische Außenseiter aller Art sowie Musiker, die als spiritistische Medien die neuen Werke längst verstorbener Komponisten wie Johann Sebastian Bach oder John Lennon empfangen.

Aber wann bleibt ein prominenter Schauspieler wie William Shatner, der sich als Sänger versucht, ein Kuriosum, das nur seine Fans zu interessieren hat? Und was muss schief laufen, damit er ins Genre der Außenseitermusik fällt?

Sieht man sich die Beispiele in dem Buch an, dann gibt es drei Wege, die zur seltsamen Musik führen: entweder die Person war zuvor so berühmt oder anerkannt, dass das musikalische Schei­tern ein besonders grandioses Spektakel abgibt. Die zweite Möglichkeit ist eine überdimensionale Diskrepanz zwi­schen der objektiven Minderwertigkeit der musikalischen Darbietung und dem kommerziellen oder subjektiv wahrgenommenen Erfolg. Als dritte Möglichkeit führt die spätere Wertschätzung in Sammlerkreisen zum späten Ruhm als Außenseiterkünstler.

Betrachtet man diese drei Varianten näher, so wird deutlich, dass wie im Mainstream selbstverständlich Marktkriterien über den Stellenwert des Künst­lers entscheiden. Der Erfolg wird also an den Auktions- und Sammler­preisen gemessen: »Lieb­haber­­preis von 860 Mark«, »500 Dollar«, »über 500 Dollar«, »bis zu 1 000 Dollar«, »knackige 150 Dollar«, »Spitzenpreise von teilweise mehreren ­hundert ­Dollar« oder »­satte 1 272 ­Dollar«. Diese ­Sichtweise ­reduziert die Outsider­musik und ihre Kultur auf einen Sammlermarkt, denn immer ­wieder werden den ­hohen Auktions­preisen die »paar ­Groschen« ­gegenübergestellt, für die man diese Platten mit etwas Glück auf dem Flohmarkt ergattern kann.

Dabei gerät eine zweite Perspektive aus dem Blick: Man kann an der Außen­seitermusik gerade die Fähigkeit goutieren, popkulturelle Qualitätsmaßstäbe und Diskursregeln zu entlarven, indem sie bewusst oder unbewusst missachtet werden. Die unglaublich seltsame Musik ließe sich als Instrument dafür einsetzen, die geltenden und sich verändernden Re­geln für die Produk­tion »guter Musik« offen zu legen. Ein solcher Ansatz zielte also auf die kulturellen Grundannahmen, was ein denkbarer Ausgangspunkt für das transzendente »je ne sais quoi« im Sinne Chusids sein könnte.

Dennoch hebt die Tragik vieler Episoden das Buch immer wieder über das Niveau einer bloß auf Unterhaltung zielenden Kuriositätensammlung. Zu viele Geschichten enden in anonymen Urnen­gräbern, auf Trailerparks in der nord­ameri­kanischen Provinz oder, wie im Fall des schwedischen Künstlers Anton Maiden, der mit billigen Computersounds und einer sehr ungeübten Stimme Songs der Metal-Band Iron Maiden nachspielte, gar mit dem Selbstmord, ausgelöst durch die plötzliche Erkenntnis, dass die Bewunderung durch das Publikum nichts weiter war als eine über­steigerte Faszination durch die vermeint­liche Peinlichkeit des Outsiders. An diesen Stellen wer­den die Abgründe der ­Musikindustrie spürbar, wenn auch um den Preis, dass es einen unglaub­lich ­seltsamen ­Beigeschmack hat, wenn man sich an diesen mu­sikalischen Außen­seitern erfreut.

Jens Raschke: Disco Extra­vaganza. Eine Reise ins ­Wunderland der sonderbaren Töne. Ventil ­Verlag, Mainz 2007, 268 S., 13,90 Euro