Das große Gehen und Kommen

Ein Reader versammelt Aufsätze zum Thema Migration an den Grenzen Europas. von philipp dorestal

Die Projektgruppe Transit Migra­tion, die 2005 im Kölner Kunstverein eine Ausstellung zu Migration präsentierte, legt mit ihrem gerade erschienenen Buch »Turbulente Ränder« eine weitere Arbeit vor, die sich mit Migration an den Grenzen Europas befasst. Am Beispiel der Türkei, der Ägäis-Zone und der Staaten des ehemaligen Jugoslawien haben die Autoren in ihren Feldforschungen untersucht, wie Migrationsbewegungen verlaufen und welche Strategien Migranten dabei verfolgen.

Ein wichtiges Interesse der Herausgeber ist die Kritik am Viktimisierungsdiskurs. In der Einleitung machen Serhat Karakayali und Vassilis Tsianos die Viktimisierung als Teil des »Elends der Migrationstheorie« aus. In vielen Abhandlungen zur Migration lässt sich die Tendenz fest­stellen, dass Migranten entweder als willenlose und getriebene Opfer von Flucht und Vertreibung dargestellt oder als Schleuser und Schlepper dämonisiert werden. Dabei wird Migration auf strukturelle Ursachen reduziert und den Akteuren wird jegliche Form von Subjektivität und Handlungsmächtigkeit abgesprochen.

Zugleich grenzen sich die Beiträge auch von den Cultural Studies ab, die die Subjektivität betonten und objektive strukturelle Faktoren negierten. Unter Rückgriff auf die Regimeanalyse, so Karakayali und Tsianos, könne eine monokausale Analyse von Migration vermieden werden, die entweder den subjektiven oder den systemischen Faktor verabsolutiere. In dem Projekt wurde der Versuch unternommen, dieser »epistemologischen Arbeitsteilung« einen dritten Raum entgegen­zustellen, »in dem die subjektive Seite des Migrationsgeschehens nicht auf individuelle Tricks der MigrantInnen reduziert ist und umgekehrt die Handlungsmuster in der Migration nicht einfach institutionell vorgegeben sind«.

Der Metapher der »Festung Europa« halten die Autoren die These von der Autonomie der Migration entgegen. Beispiels­weise zeigen Effi Panagiotidis und Vassilis Tsianos in ihrer Untersuchung der Transit­migration in Griechenland, dass die Abschottung der Grenzen und die Restrik­tion der Mobilität niemals total sind, wie es die Rede von der »Festung Europa« suggeriert. Vielmehr sind die staatlichen Versuche der Regulation der Migration eine Reaktion auf diese.

Gegen die Interpretation des italienischen Philosophen Giorgio Agamben vom Lager als »Ausnahmezustand« setzen Panagiotidis und Tsianos eine originelle Lesart von Foucaults Buch »Überwachen und Strafen«. Die Disziplinarmacht bringt demnach »Bewe­gungen zum Stillstand oder unter Regeln«. Analog zu Foucaults Analyse der »Arbeitshäuser« als Ort der temporären Einsperrung zur Forcierung einer bestimmten Arbeits- und Mobilitätssubjektivität interpretieren Panagiotidis und Tsianos das Lager im Besonderen und das biopolitische Migrationsregime im Allgemeinen unter dem Aspekt der, wie sie es nennen, »topokratischen Kontrolle der Mobilität durch Entschleunigung«. Demnach können die Versuche, die Migration durch Inklusion (Lager) und Exklusion (Grenze) beherrschbar zu machen, niemals vollständig gelingen, sondern werden von den Migranten umgangen.

In ihrer Analyse verschiedener Kampagnen der IOM (International Organisation for Migration) in den baltischen Staaten zeigt Rutvica Ankryasevic überzeugend, wie Viktimi­sierung von Migrantinnen anhand des Menschenhandels- und Schlepperdiskurses betrieben wird. Es geht der Autorin dabei nicht darum zu leugnen, dass Frauen Opfer von Menschen­händlern werden können und sich dann in anderen Ländern gezwungen sehen, sich als Sexarbeiterinnen zu verdingen. Sie kann aber anhand der Kampagnen aufzeigen, dass Migration von Frauen unterbunden werden soll, indem die Gefahr der Ver­sklavung besonders betont wird. Die Autonomie der Migrantinnen wird mit dem Menschenhandelsdiskurs somit von vornherein negiert, deren Mobilität nur als ein von außen herbei­geführter Zwang konstruiert und visuell in den Bildern der Kampagnen fixiert.

Regina Römhild geht in ihrem Text der Frage nach Transnationalisierung und Euro­päisierung der Migrationsbewegungen und dem Versuch der Staaten und NGO nach, diese zu regulieren. Einerseits greift sie den Begriff der Philosophin Rosi Braidottis vom »nomadisierenden Subjekt« auf, mit dem die Existenz vieler Migranten umschrieben wird, die sich nicht an einen Ort gebunden fühlen und deren Mobilität sich nicht mit der linearen Bewegung von Herkunfts­ort und Ankunft fassen lässt. Andererseits will Römhild diesen migrantischen Kosmopolitismus auch nicht romantisch verklären. Grenzüberschreitung hat nicht nur etwas mit einem rebellischen Akt an sich zu tun, sondern die Migrierenden verfolgen immer auch pragmatische Über­legungen. Ein Aufbegehren gegen rassistische Gesetzgebung kann auch temporär sein, und es kann ein Arrangement mit dem Bestehenden folgen, wenn der Aufenthaltsstatus gesichert ist. Insofern ist Römhilds Beitrag ein weiteres Plädoyer für die Absage an den Opferdiskurs und für die differenzierte, nichtnormative und nüchterne Sicht auf Migration.

Weitere Aufsätze beschäftigen sich mit Aspekten der filmischen Darstellung von Migration, dem Asyl- und Menschenrechtsdiskurs in Europa und der thesenartig vorgestellten Forschungsmethode von der Autonomie der Migration.

Dem Buch beigefügt ist eine »Mig­map« genannte Kartografie der Migranten, Migrantenorganisationen und der sich um Migration rankenden Diskurse und Gegendiskurse. Peter Spillmann erläutert in seinem Beitrag, dass sich diese Darstellung von traditionellen Karten explizit absetzen will, weil diese gemeinhin den Versuch darstellen, etwas eingrenz- und damit beherrschbar zu machen, so dass gleichzeitig Wissens- und Herrschaftslogiken fortgeschrieben werden. Das Interesse der Gruppe ist es jedoch nicht, Migrationsrouten en detail aufzuführen. Vielmehr versucht man, mit der Karte die Idee der Autonomie der Migration zu vermitteln. Insgesamt ist »Turbulente Ränder« eine anregende Lektüre und kann den im Untertitel erhobenen Anspruch, neue Perspektiven auf Migration zu bieten, vollends einlösen.

Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld 2007, 250 S., 24,80 Euro