Heldengedenken in der Heldenstadt

Das Andenken an den »Großen Vaterländischen Krieg« ist in Russland immer noch gegenwärtig. Heute dient es nationalistischen Zwecken. von katja grote (text und fotos)

Gegenüber vom Moskauer Bahnhof in St. Petersburg, wo der Newski-Prospekt beginnt, die breite Prachtstraße, die durch das gesamte Stadtzentrum führt, prangt auf dem Hotel Oktja­brskaja in großen Buchstaben die Aufschrift: »Heldenstadt Leningrad«. Man könnte das für ein Relikt aus vergangenen Tagen halten, doch im Bewusstsein der Bewohnerinnen und Bewohner spielen die Ereignisse, auf die dieser Schriftzug hinweist, noch heute eine wichtige Rolle. Mag die Stadt auf Wunsch der Mehrheit ihrer Bewohner wieder St. Petersburg heißen, steht der Titel »Heldenstadt Leningrad« für das Gedenken an die Blockade der Stadt im Zweiten Weltkrieg. Und die Erinnerung an den Widerstand gegen die deutschen Besatzer ist ein wesentlicher Bestandteil der russischen National­mythologie.

Am 8. September 1941 hatte die deutsche Wehrmacht die Stadt fast vollständig umlagert. Im Norden standen die mit den Deutschen verbündeten finnischen Truppen an der ehemaligen finnisch-russischen Grenze, im Westen bildete der Finnische Meerbusen eine natürliche Barriere, und im Osten blieb nur der Zugang zum Ladogasee. Leningrad und seine etwa drei Millionen Einwohner waren vom restlichen Land und allen Versorgungswegen abgeschnitten. Dennoch gelang es der Wehrmacht nicht, die Stadt einzunehmen. »Feststehender Entschluss des Führers ist es, Moskau und Leningrad dem Erdboden gleichzumachen, um zu verhindern, dass Menschen darin bleiben, die wir dann im Winter ernähren müssten«, schrieb der Generalstabschef des Heeres, Franz Halder, bereits am 8. Juli 1941 in sein Kriegstagebuch.

Tatsächlich wurde die Versorgung der Leningrader mit Lebensmitteln immer schwieriger. Über den vereisten Ladogasee wurde eine Schienenstrecke gebaut, über die allerdings kaum das Nötigste transportiert werden konnte. Während der fast 900 Tage dauernden Blockade starb über eine Million Menschen an Hunger und Kälte. Am 27. Januar 1944 wurde die Stadt von der Roten Armee befreit. Noch 1945 wurde Leningrad ebenso wie Stalingrad, Kiew, Minsk, Moskau und sieben weiteren Städten der Titel »Heldenstadt« verliehen.

Ein Feiertag ist der 27. Januar bis heute geblieben. Die offiziellen Zeremonien und Erinnerungsstätten verdeutlichen die Ambivalenz des Gedenkens an den »Großen Vaterländischen Krieg«. Die Formen und Rituale aus der Sowjet­zeit setzen sich im Russland der Gegenwart beinahe bruchlos fort. Mehr noch, der Sieg im Krieg bildet für viele Menschen den zentralen und oft einzigen Bezugspunkt für ihr nationales Selbstverständnis. In der offiziellen Erinnerung wird der Kampf gegen Faschismus und Unfreiheit als »Kampf fürs Vaterland« gedeutet und dient heute zur Erzeugung nationalistischer Gefühle.

Der Piskarevskoe-Gedenkfriedhof im Nordosten der Stadt ist am Morgen des diesjährigen 27. Januar von Schnee bedeckt. Rechts und links des Hauptwegs, der auf die Ehrenmauer und das Denkmal der »Rodina Mat« (»Mutter Heimat«) zuläuft, bergen zu länglichen Wiesenhügeln aufgeschüttete Massengräber mehr als eine halbe Million Tote. Angelegt wurde dieser Friedhof noch während des Kriegs. Das Ausmaß des Leidens der Zivilbevölkerung unter der Blockade wird hier sichtbar.

Von der ewigen Flamme am Friedhofseingang zieht sich eine lange Menschenschlange bis zum zentralen Denkmal, an dem Kränze und rote Nelken zum Andenken an die Verstorbenen niedergelegt werden. Offizielle Repräsentanten der Stadt sind da, Ab­ord­nungen von Soldaten, Delegationen unterschiedlicher Konfessionsgruppen und vor allem ältere Leute, die an diesem Morgen trotz Temperaturen um zehn Grad unter Null zum Friedhof hinausgefahren sind. Die meisten gehören selbst zu den Überlebenden der Blockade. Ein alter Mann trägt sichtbar seine von zahlreichen Orden gezierte Uniformjacke, die ihn als Kämpfer für die Befreiung Leningrads ausweist.

Mit den alten Leningradern sind auch die persönlichen Erinnerungen an die fast zweieinhalbjährige Blockade präsent: der Hunger, die Verzweiflung, das Sterben. Qualvolle Erinnerungen, von denen sich die meisten gerne befreien würden. »Meine Mutter habe ich angebettelt: Gib mir ein Stückchen Brot. Aber sie hatte doch selbst nichts.« Leise und unvermittelt beginnt der Mann neben mir, seine Geschichte zu erzählen. »Ich war sieben«, sagt er, dann bricht er abrupt ab. Weiter will er nicht sprechen. Warum so wenig junge Leute gekommen sind, frage ich, um das Thema zu wechseln. Darauf hat er sofort eine Antwort: »Die heutige Generation ist anders. Bei uns hieß es: ›Alles für die Heimat‹. Aber heute … « Auch er hat keinen Zweifel daran, dass die Figur der »Mutter Heimat«, die auf die Gräber herab schaut, der ungeheuerlichen Tragödie einen tieferen Sinn verleiht.

Der Bezug auf die Heimat spielte in der Sowjetunion bereits während des Krieges eine zentrale Rolle. Der Natio­nalismus, der vornehmlich ein russischer Nationalismus war, gewann wäh­rend jener Jahre wieder an Bedeutung. Am augenfälligsten wurde dies in der von Stalin 1944 veranlassten Ersetzung der »Internationale« durch eine neue Nationalhymne, die das ruhmreiche Russland als einigende Kraft der Sowjetunion besang. Für Stalin wurde der Sieg über den Nationalsozialismus zur wichtigsten Legitimation seiner Führung und zum Vorwand für eine neue Welle von Repressionen, die bald nach dem Kriegsende einsetzte.

In der offiziellen Erinnerung an den Krieg stand das geeinte heroische Sowjetvolk im Vordergrund, das unter der Führung Stalins die Heimat gegen den Feind verteidigt hatte. Der Freiheitsgedanke vieler Partisanenverbände hingegen wurde nicht in den Erinnerungskanon aufgenommen, ebenso wenig wie die Vernichtung der Jüdinnen und Juden. So ging das antisemitische Massaker in Babij Jar als massenhafte Ermordung von Sowjetbürgern in die Enzyklopädien ein. Mit der Bezeichnung »Großer Vaterländischer Krieg«, die bis heute gebräuchlich geblieben ist, wurde der Zweite Weltkrieg darüber hinaus in eine historische Linie mit dem Sieg des russischen Zarenreichs über die französischen Truppen unter Napoleon gestellt, den »Vaterländischen Krieg« von 1812.

Viele der bekannten sowjetischen Denkmäler, die das soldatische Heldentum inszenieren, stammen aus der Breschnew-Ära (1964 bis 1982), ebenso wie viele entsprechende Darstellungen in Film und Literatur. Die Person Leonid Breschnews steht noch heute für eine Ära der politischen und ökonomischen Stabilität. Auch das »Monument für die heroischen Verteidiger Leningrads« wurde in dieser Zeit errichtet.

Am Ende des Moskau-Prospekts, unweit der ehemaligen Frontlinie, ragt auf einer großen Verkehrsinsel ein Obelisk in den Himmel. Er scheint den unterirdisch gelegenen Ring, der für die Blockade steht, durchbrochen zu haben. Am Fuße des Obelisken stehen zwei Bronzefiguren, kraftvoll und entschlossen, ein Arbeiter und ein Soldat – die »Befreier«.

Die Treppe, die auf das Denkmal zuführt, wird rechts und links von weiteren Skulpturengruppen gerahmt: »Schützen«, »Soldaten und Mat­rosen«, die »Volkswehr« und die »Munitionsgießerinnen«. Kraftlose, ausgezehrte Menschen, die das Straßenbild des blockierten Leningrad bestimmten, sind nur in einer kleinen Skulpturengruppe im Inneren des Denkmals dargestellt. Die geschwäch­ten Frauen und Kinder werden von einem Soldaten gestützt. Die Gedenksteine in den Räumen des Museums wiederholen das soldatische Pathos: »Leningrad hat gesiegt, weil es sich in seinem Kampf, selbst in Zeiten der grausamen Blockade, immer auf das gesamte Sowjetvolk stützen konnte.« Bei der Einweihung des Denkmals im Jahr 1975 war vom Dach des angrenzenden Hochhauses noch zu lesen: »Volk und Partei vereint«.

Bereits in den fünfziger Jahren erbaut wurde der »Park des Sieges«, der in einem einstigen Industriegebiet am Rand der Stadt liegt. Darüber, dass dort während der Blockade die zahlreichen Toten gesammelt wurden, spricht man erst heute. Zu Sowjetzeiten wurde mit der »Allee der Helden« nur den Trägern des Ordens »Held der Sow­jetunion« ein Denkmal gesetzt.

Das Gedenken an die elendig Verhungerten blieb abstrakt. Ihre Zahl wurde lange Zeit nur mit 600 000 angegeben, also halb so hoch wie die tatsächlichen Opferzahlen. Das lag zum einen sicherlich an dem schier unüberschaubaren Massensterben in der Stadt. Zugleich stand das tatsächliche Ausmaß der Vernichtung der Bevölkerung aber dem Mythos von der unbezwingbaren Sowjetmacht entgegen. Erst seit sechs Jahren wird an einer anderen Stelle im Park auch ausdrücklich der zahllosen Toten gedacht – und zwar an der Stelle, wo während des Kriegs die Öfen eines Ziegelwerks zum Krematorium umfunktioniert wurden, um die Stadt vor Seuchen zu schützen.

Eine andere Neuerung im »Park des Sieges« verdeutlicht hingegen das Fortwirken der sowjetischen Heldenmythen, eine Kontinuität, die nur in einer kurzen Phase der geschichtspolitischen Auseinandersetzungen während der »Perestroi­ka« unterbrochen wurde. Im Zentrum der »Allee der Helden« wurde in den neunziger Jahren Georgi Schukow ein alles überragendes Denkmal gesetzt. Als Chef des Generalstabs der Roten Armee kommandierte er im September 1941 die Leningrader Front und leitete die Verteidigung der Stadt gegen die deutschen Truppen. Im Früh­jahr 1945 war er Kommandant der Ersten Weiß­russischen Front, die eine wich­tige Rolle bei der Einnahme Berlins spielte. Schu­kow war es auch, der in Berlin-Karls­horst die deutsche Kapitulation entgegennahm.

Er ist eine der zentralen Figuren der heutigen Erzählung über den »Großen Vaterländischen Krieg«. Er wird dabei eingereiht in die »Ahnengalerie« der ruhmreichen russischen Nation. Fast gleich­zeitig wurden in den neunziger Jahren in Moskau zwei pompöse Denkmäler gebaut – das eine zu Ehren Schukows, das andere zu Ehren des Zaren Peter der Große.

Ein anderer nationaler Held, Zar Alexander I., der während des »Vaterländischen Kriegs« von 1812 regierte, thront über der Abschlussfeier zum Blockadegedenken. Auf dem zentralen Schlossplatz mit der Alexandersäule und dem Triumphbogen versammeln sich am Abend vor einer großen Bühne einige tausend Petersburger zu einem von der Stadt organisierten Konzert mit Lasershow. Die Partei »Einiges Russland«, die Präsident Wladimir Putin unterstützt und im Stadtparlament von St. Petersburg die stärkste Fraktion stellt, lässt es sich nicht nehmen, mit zwei überdimensionalen Transparenten auf den Feiertag hinzuweisen. Schließlich sind Anfang März Kommunalwahlen.

Als stünde die Stadt abermals vor einer existenziellen Bedrohung, appelliert der örtliche Parlamentspräsident, Wladi­mir Tjulpanow, an die patriotischen Gefühle der Anwesenden. »Lieben wir unsere Stadt?« ruft er der Menge zu. »Schützen wir unsere Stadt?« Die Menge ist begeistert; auch die Jungen, die bei dem Ereignis am Abend viel zahlreicher sind als am Morgen auf dem Friedhof, fühlen sich nun eins mit den früheren Verteidigern Leningrads.

Die offizielle Erzählung über den Zweiten Weltkrieg wird in Russland von jenen gesellschaftlichen Kräften bestimmt, die von einer wieder erstarkenden Großmacht Russland träumen. Das Gedenken an die Blockade wie auch die Feierlichkeiten zum »Tag des Sieges« am 9. Mai sollen vor allem die Notwendigkeit eines »starken Mannes« in der Führung des Staats sowie einer schlagkräftigen Armee herausstellen. An den Nationalismus der Sowjetära lässt sich problemlos anknüpfen, zumal nach dem Zusammenbruch der Sowjet­union der Sieg im Weltkrieg derjenige Aspekt der sowjetischen Geschichte ist, der sich für den russischen Natio­nalis­mus der Gegenwart am besten als Referenz eignet.

Andere Formen des Erinnerns, die statt der Nation die Freiheit von Unter­drückung in den Vordergrund stellen, haben nach wie vor keinen Platz. In ihrer Ablehnung des instrumentalisierten Kriegsgedenkens fiel den reformerischen Kräften der Peres­troika nichts Besseres ein, als das Gedenken ganz abzuschaffen. Sie haben es denen überlassen, die auch heute nicht über die sich mit dem Sieg verschärfende Repression und den Stalinschen Terror in den gerade vom Nationalsozialismus befreiten baltischen Staaten reden wollen.

So verwundert es nicht, dass die gegenwärtige Auseinandersetzung um sow­jetische Denkmäler in Estland, Lettland oder Litauen am heftigsten von den autoritärsten und nationalistischsten Kräften auf beiden Seiten geführt wird. Während in der estnischen Hauptstadt Tallinn alte und junge Faschisten die Demontage des »Befreierdenkmals« fordern, an dessen Standort Hunderte sowjetische Soldaten begraben liegen sollen, schwingt sich in Russland der Rassist und Antisemit Wladimir Schirinowski zu seinem glühendsten Verteidiger auf.

Und was bleibt den Verteidigern der »Heldenstadt Leningrad«? Während die Verhungerten auf der Straße vergessen und in der offiziellen Erinnerung von heldenhaften Kämpfern verdrängt werden, scheint auch für die überlebenden »Blokadniki« kein Platz zu sein. Als Ehrengäste der Feierlichkeiten wer­den sie einmal im Jahr in die prunk­vollen Theater und Konzertsäle der Stadt geladen, deren Besuch sie sich sonst nicht leisten können. Nicht wenige leben von der üblichen Rente von 3 000 Rubel im Monat – umgerechnet knapp 90 Euro. Selbst mit den Ermäßigungen auf Wohn- und Nebenkosten und kostenloser Nutzung des Nahverkehrs kann man in einer Stadt wie St. Petersburg davon nicht überleben. Mit viel Reklamegeschrei hat die Stadtregierung zu Anfang dieses Jahres ein Gesetz erlassen, das den Über­lebenden der Blockade eine zweite Rente zugesteht, sofern sie eine Invaliditätsbescheinigung haben.

Der Abend an der Newa endet mit einem Feuerwerk und Salutsalven. Einige der Überlebenden werden vielleicht am nächsten Tag wieder vor den Behörden stehen, weil sie ihre Invalidität beglaubigen lassen wollen. Die Gouverneurin von St. Petersburg, Walentina Matwienko, hat bereits angekündigt, dass nicht alle mit dieser Rente rechnen können.