Wer hat’s gelesen?

»Karl Marx, Kapital Band Eins« im Berliner Hau

Acht Laienschauspieler verschiedener Altersklassen und Milieus stellten im Stück »Karl Marx, Kapital Band Eins«, das Ende Januar im HAU2 seine Berliner Premiere hatte, sich selbst und ihre Beziehung zum Buch dar. Das funktionierte: Die beiden Autoren Helgard Haug und Daniel Wetzel haben weder versucht, »Das Kapital« zur Story zu degradieren und stereotype Schicksale zu erzählen, noch wollten sie eine Interpretation abliefern.

Ihr Ende der neunziger Jahre gegründetes Projekt »Rimini-Protokoll« bewegt sich stilistisch sowohl in der Nähe des Dokumentarfilms als auch der Improvisa­tion und öffnete den Weg für neue Darstellungsformen im Theater.

Die acht Personen auf der Bühne wurden nicht gefragt, wie sie »Das Kapital« gelesen haben, sondern wann und welche Anekdoten ihnen dazu einfallen. Zusammengewürfelt wurden keine typischen Politmenschen, die naive Politikträume haben oder Abziehbilder der Abkehr und Läuterung sind. Gecastet wurden interessante Leute, von denen man sich gerne ihre ungewöhnlichen Geschich­ten erzählen lassen wollte.

Zum Beispiel Thomas Kuczynski, »erwerbs-, nicht arbeitsloser« Professor für Wirtschaftsgeschichte, ehemaliger Direk­tor des von seinem Vater Jürgen begründeten Instituts für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Er erzählte so viel Kluges, dass es Spaß machte, ihm zuzuhören, so viel Kauziges, wie es nicht zuletzt seine Rolle erforderte. Biografisches wurde preisgegeben, soweit es die Geschichte und die Unterhaltung verlangen, aber keine Lebensgeschichten wurden erzählt. Der Un­ternehmensberater Jochen Noth, der früher im SDS war, ein Gründungsmitglied des KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland) gewesen ist und der nach einem Gefängnisaufenthalt ein paar Jahre in China verbracht hat, verzichtete darauf, das, was gewesen war, ironisch zu brechen. Die falschen Widersprüche wurden umgangen.

Es geht um das Buch, das jeder kennt, das nur wenige gelesen haben und zu dem völlig unterschiedliche Ansichten existieren.

Den Weg des Filmemachers Talivaldis Margevics aus Riga musste der Wälzer zwangsläufig kreuzen. Riga lag zu seiner Studentenzeit noch in der Sowjetunion, und so hat er das »Kapital« aus unterschiedlichen Gründen zweimal durch­geackert. Ganz anders Franziska Zwerg, die in der DDR aufgewachsen ist, Boris Jelzins Biografie übersetzt hat und von sich sagt, dass sie das Buch auch 2014 nicht gelesen haben wird. Mit Zitaten und Begriffen wie »Mehrwert« wurde jongliert. Politkitsch wurde glücklicherweise weggelassen. Lediglich der 20jäh­rige Sascha Wernecke, Mitglied der DKP, der zum Schluss auftrat, ließ die schlimms­ten Befürchtungen wahr werden. Da wurde es kurzzeitig erschreckend simpel: Er fand in erster Linie Hugo Chávez gut und McDonald’s doof. Da war man mit dem »Rimini-Protokoll« und ganz besonders mit dem Theaterstück »Karl Marx – Das Kapital, Band Eins« aber schon sehr zufrieden und hatte den Saal fast verlassen.

nina scholz

Nächste Aufführungen: 24. bis 26., 28. Februar im Hau 2 Berlin, 1. bis 2. März im Schiffsbau ­Zürich, 13. bis 15. April im Schauspiel Frankfurt/Main