Der Langweiler als Denunziant

clemens nachtmann über Wolfgang Kraushaars Kritik an Johannes Agnoli

Die Ödnis, von der jemand befallen ist, dem als einem so genannten Alt-68er im Gegensatz zu manch anderem aus seiner Generation ein warmes Plätzchen im akademischen Betrieb versagt war, der vielmehr nur von der Frankfurter zur Hamburger Sozialforschung abgestiegen und deshalb für den Rest seines Lebens dazu verdonnert ist, zähe Abhandlungen über das Jahrhundert der Extreme, des Totalitarismus und andere schwergewichtige Dinge zu verfassen – die Langeweile, die ein Intellektueller, der es nicht ganz geschafft hat, bei derlei Verrichtungen empfindet, lässt sich an nichts zuverlässiger er­messen als an der aufdringlichen Wichtigtuerei, mit der er durchaus banale Funde als groß­artige Sensationen anpreist und die eigene durchaus mittelmäßige Tätigkeit als aufklärerische und belangvolle Tat zur Schau stellt. Sein als mangelhaft empfundenes Prestige durch Penetranz kompensierend, gerät der halbakademische Intellektuelle mit Geltungsdrang regelmäßig in die Rolle eines Rheumadeckenverkäufers auf Butterfahrten, der auch zum 56. Mal mit nie erlahmendem Eifer sein kostbares Produkt anpreist und seine Ansprache auch dann noch unverdrossen fortsetzt, wenn seine Zuhörer sich bereits in Gähnkrämpfen win­den.

Wolfgang Kraushaar, von dem die ganze Zeit schon die Rede war, ist ein solcher Intellektuel­ler, der von Berufs wegen Pedanterie mit Gelehr­samkeit und Penetranz mit Standfestigkeit ver­wechseln muss und der es in dieser Profession schon weit gebracht hat.

Dass Kraushaars Not sein berufliches Ansehen betreffend recht groß sein muss und er offenbar keine Gelegenheit auslässt, um seinen Denkschrott von vorgestern als brandneue Ent­deckung unters Volk zu bringen, erhellt ein Artikel aus der FAZ vom 12. Dezember. Dort berichtet der Autor Rainer Blasius von einer Tagung des Deutsch-Italienischen Zentrums Villa Vigoni in Menaggio, auf der Kraushaar es unternahm, ein dunkles Kapitel im Leben von Johannes Agnoli aufzudecken, und in diesem Zusammenhang dessen Staatskritik als »in ihrem Kern aus der präfaschistischen Liberalismuskritik Italiens« stammend bezeichnete.

Kraushaars Referat habe, so Blasius, »Spreng­stoff« enthalten und daher einige Zuhörer »auf­geschreckt«. Was nicht gar! Interessant und bemerkenswert ist an Kraushaars Auftritt nur eines: die Dreistigkeit, mit der einer es fertigbringt, ein Referat, das er zum ersten Mal vor über 20 Jahren, 1985, auf einem SDS-Kameradschaftstreffen gehalten hat, zu recyceln, aber dabei so zu tun, als handele es sich dabei um taufrische und hochbrisante Erkenntnisse.

Der Hamburger Sozialforscher wird sich wohl gedacht haben, dass die noch nicht ganz verflogene Aufregung um Günter Grass’ Mit­gliedschaft in der Waffen-SS doch ein guter Anlass sein könnte, um einen ähnlichen Fall für Linksradikale zu inszenieren und darüber selbst als mutiger und schonungsloser Aufklärer in die Geschichte einzugehen. Kraushaar, der es überhaupt mit der Vorstellung hat, die 68er seien hintergangen und betrogen worden, und der deshalb vor einigen Jahren mit der ähnlich sensationellen Entdeckung aufwartete, wonach der SDS von der DDR unterwandert worden sei – wofür er allerdings Belege schuldig bleiben musste –, Kraushaar also lamentierte der FAZ zu­folge nun auf besagtem Kongress darüber, dass Agnoli seine politischen Mitstreiter über seine Vergangenheit »offensichtlich in Unkenntnis« gelassen habe.

Daran ist nur so viel wahr, dass Agnoli, da­rin im Gegensatz zu Kraushaar ein Gelehrter alten Stils, es vorzog, in der Öffentlichkeit statt über seine Person lieber zur Sache zu sprechen – aber jedem, der es wissen wollte, erzählte er ganz offen, was Kraushaar nun als unerhörte Neuigkeit skandalisiert: dass er als Jugendlicher überzeugter Faschist war, sich aus Bewunderung für die Deutschen frei­willig zur Waffen-SS meldete, Soldat der deut­schen Wehrmacht war und in der Kriegsgefangenschaft sich vom Faschismus abwandte.

Daran gibt es nichts zu beschönigen, und Agnoli hat das auch nie getan. Dass er mit seinen jugendlichen Taten nie an die Öffent­lichkeit getreten ist, gereicht ihm vielmehr zur Ehre, kann doch heutzutage jeder medio­kre Trottel am sichersten mit einer wirksam inszenierten Selbstanklage alle Aufmerksam­keit auf sich ziehen, und für Agnoli wäre es ein Leichtes gewesen, mit einer reißerisch aufgemachten Story über seine faschistische Vergangenheit zu versuchen, sich und sein Werk dem schmählichen Vergessen zu entreißen, dem es anheimgefallen ist.

Agnoli zog es stattdessen vor, seine »Kritik der Politik« gegen seine jugendliche Blödheit sprechen zu lassen – und tatsächlich könnte man sein Werk, wenn man es denn möchte, auch als eine Art Selbst­therapie lesen: Indem es allen Staatsidealismus und damit die Sogwirkung, die von den Institutionen des integralen Staats ausgeht, radikal kritisiert, zielt es auf jenes Element, von dem auch der junge Agnoli sich hat mitreißen lassen.

Kraushaar geht es denn auch gar nicht um die ver­meintlich so brisanten biographischen Details als solche, sondern darum, im direkten Rückschluss vom jungen Agnoli auf dessen Staatskritik diese mit­samt der Person zu diskreditieren. Dieses Vorgehen ist vor allem Inhalt nichts weiter als übelstes Denun­ziantentum. Dass aus der Gesinnung oder dem Verhalten einer Person deren intellektuelles Werk nicht beurteilt werden kann, sollte eigentlich zu den selbst­verständlichen Grundlagen intellektueller Redlichkeit zählen. Entweder es gelingt der immanente Nachweis, dass eine Philosophie, eine Theorie etc. ihrer inneren Zusammensetzung nach etwa faschistisch sei – dann sind Person und Werk deckungsgleich wie etwa bei Heidegger; oder dieser Nachweis gelingt nicht – dann klafft beides auseinander, und man hat sich irgendwelcher Andeutungen über Wirkungen der Person auf das Werk zu enthalten.

Selbstverständlich sollte es ebenfalls sein, dass jemandem die Darstellung bzw. der Nachvollzug eines Gedankens in seiner objektiven Logik nicht als Par­teinahme für den Gang und die Konsequenz eben dieser Logik ausgelegt wird. Das heißt: Der Satz »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet« ist wahr, obwohl er von einem stammt, der seiner subjektiven Gesinnung nach nicht nur mit den Nazis sympathisierte, sondern ihnen an exponierter Stelle diente – und man könnte dabei die Frage stellen, ob nicht gerade die Identifikation mit dem Sou­verän Carl Schmitt befähigt hat, dessen objektive und mörderische Logik so offen und rücksichtslos auszusprechen, wie er es getan hat. Man kann weiterhin diese Logik darstellen und sie nachvollziehen, gerade weil man sich nicht mit ihr identifiziert, son­dern ihr und ihrem logischen Ergebnis, dem Volksgemeinschaftsstaat, entgegenwirken möchte.

Analog dazu hat Johannes Agnoli Vilfredo Paretos Konzeption eines starken Staats mit einem entsubstanzialisierten Parlament, deren Realisierung dieser sich zuerst von der II. Internationale und dann von den Faschisten erhoffte, in der »Transformation der Demokratie« und anderswo nicht herbeizitiert, weil er diese sich zu eigen gemacht hätte – Agnoli als Verfechter eines »starken Staats«, wie absurd! –, sondern weil er Paretos Vorstellungen im postnazistischen transformierten Verfassungsstaat aufgehoben sah, weshalb dieser radikal zur kritisieren sei. Kraushaar und andere, die es neuerdings so dick mit dem Liberalismus haben, sollten anlässlich Paretos lieber einmal darüber nachdenken, was einen Rechtsliberalen wie ihn erst zu den Sozialdemokra­ten und dann zu den Faschisten führte, anstatt am untauglichsten Objekt überhaupt ihre totalitarismus­theoretischen Übungen abzuhalten.

Aber wie auch immer: Es ist dieser Zusammenhang so evident und der Kraushaarsche Nachweis der angeblich faschistischen Grundlagen der Agnolischen Kritik der Politik so dermaßen lächerlich, dass man sich unwillkürlich fragt, ob denn die Fähigkeit zu groben intellektuellen Fehlleistungen und das Fahrenlassen einfachster Grundregeln intellektueller Redlichkeit nicht zu den Entrebillets für die Hamburger Sozialforschung zählen.

Was als Fehlleistung erscheint, hat aber System. Bei Kraushaar ist es eine primitive Totalitarismus­theorie, die jede Kritik am Liberalismus als der ver­meintlich gesunden Mitte als mit totalitären Ambitionen behaftet perhorresziert, auf diese Weise aber die notwendige Einsicht in die Bedingungen der heutzutage schon mit Händen zu greifenden Übereinstimmung von Linken und Rechten sabotiert. Wer wie Kraushaar vom Fetischcharakter des Souveräns nicht sprechen mag, sollte auch über Gemein­samkeiten von Rechts und Links schweigen. Den Kraushaarschen Maßstäben zufolge müsste etwa auch Adornos Diktum über Hitler als »barbarischen Ideologiekritiker«, »der wie kein anderer Bürger das Unwahre am Liberalismus durchschaute«, als Parteinahme für den Führer gewertet werden.

Mal sehen, ob Kraushaar diese Herausforderung auch noch packt – wenn er es denn tun sollte, dann wird er seine bahnbrechenden Ergebnisse bestimmt mit derselben Obstinatheit und derselben Überzeug­theit, Fehlleistungen als die Sache selbst auszugeben, vortragen. Ob dann noch jemand wach sein wird, um ihm zuzuhören, oder ob dann schon alle vor Langweile gestorben sind, ist allerdings eine andere Frage.