Dieses bleibt für immer

Ostrock lebt weiter: in kleinen Radiostationen, in Plattenläden, auf privaten Homepages und in den eigenen vier Wänden. von sebastian krüger

Wer im Internet nach DDR-Rockmusik sucht, landet früher oder später auf der Homepage von Peter Günther. Das Le­bens­elixier des 48jährigen Fernsehelektrikers ist die Rockmusik, die zwischen 1965 und 1990 zwischen Röhn und Rügen, Oschersleben und Oderbruch produziert wurde. Er wohnt mit Frau und drei Kindern im ostsächsischen Niesky, in einem Eigenheim mit Vorgarten und breiter Einfahrt. Sein eigentliches Zuhause aber ist der Schuppen nebenan. Hier, umgeben von Regalen voller Tonbänder, einem Plattenspieler und drei Computern, bastelt er in jeder freien Minute an www.ostmusik.de, der größten Datenbank im Internet mit Informationen rund um die Rockszene der DDR.

»Die Medien sind schuld, dass es diese Website gibt«, sagt Günther, »denn Ostmusik wird nicht im Radio gespielt, und in den Zeitungen wird über sie nicht berichtet.« Vor sechs Jahren hatte er den Kanal voll, tippte alles ab, woran er sich erinnerte, und stellte die Seite ins Netz. Schon bald bekam er von unzähligen Fans Mate­rial zugeschickt, der Webspace der Seite wucherte. Wer sich heute durch die 4 500 Seiten klickt, findet nicht nur Bio-, Disko- und Fotografien aus der Vorwendezeit, sondern auch Konzertberichte und Plattenkritiken von ergrauten DDR-Musikern, die noch immer aktiv sind. Längst ist die Seite ein Selbstläufer geworden: Die Fans liefern Neues, Günther arbeitet die Infos ein. Oft vergisst er die Zeit darüber, sodass ihn seine Frau per Telefon zum Essen rufen muss.

Das wichtigste Möbelstück in Günthers Haus ist die passgenau ins Wohnzimmer gedrechselte Schrankwand. Günther öffnet eine Spiegeltür, da steht er, der Ostrock: 800 Schallplatten. Vorsichtig zieht er eine heraus: »10 000 Schritte« von Omega aus Ungarn, den zeitweise populärsten Ostrockern überhaupt. Behutsam legt er das Vinyl auf den Plattenteller, lässt vorsichtig die Abtastnadel herabsinken – ein heiliger Akt. Sein Haus erzittert unter dem biblischen Budapester Bombastrock, selig strahlt er übers ganze Gesicht. Über seine Website verbreitet er auch eigene Gedanken. Unter der Rubrik »Philosophie« ärgert er sich zum Beispiel über »die da oben« und darüber, dass die Kluft zwischen den Men­schen immer größer werde. Trost spenden ihm Karat, Berluc, Stern Meißen – so alt, so gut, so aktuell. »Die Texte, Mensch! Die hauen noch immer voll rein!«

Ein Kessel Buntes

Ein Blick in sein Online-Gästebuch beweist: Ostrock-Liebhaber gibt es überall. Tief im Westen haben sie sogar eine wöchentliche Radiosendung, die immer mit dem gleichen Musikstück beginnt, mit dem bekanntesten Geigensolo der zeitgenössischen Unterhaltungsmusik: »Am Fenster« von City. Schon mehr als 500 Mal eröffneten die sehnsuchtsvollen Klänge »Istvans Ost/West-Rockstunde« – Sonntag für Sonntag, Punkt 16 Uhr, auf »Querfunk 104,8«. Wie viele Hörer Istvan hat, ist unbekannt, denn der Sender, der nur eine Reichweite von 30 Kilometern hat, deckt gerade mal das Stadtgebiet von Karlsruhe ab.

»Viele dachten anfangs, ich schreibe mich ›Eastwahn‹, wegen der Ost-Musik«, sagt der 37jährige. In Wirklichkeit heißt er weder Eastwahn noch Istvan, sondern schlicht Stefan Wenzel. Bis 1989 lebte er in Jena, kurz vor dem Mauerfall durfte seine Familie in den Westen ausreisen. »Istvan ist ungarisch für Stefan«, sagt er, der sich gern an die Urlaube am Balaton erinnert. In Jena hatte er nur Westsender gehört, die Begeisterung für den Ostrock wuchs erst mit der Anzahl der Jahre, die er in Karlsruhe lebte. »Jena und Karlsruhe ähneln sich, es gibt Berge ringsrum, die Leute sind nett. Trotz­dem fehlte mir was.« Irgendwann kam er drauf: Der Ostrock war’s.

Hauptberuflich arbeitet Istvan als Koch in einer Karlsruher Werkskantine. Sein Lieblings­gericht sind ungarische Rouladen, und die gehen so: »Schweinefleisch mit Leberwurst, Bröt­chen, Gürkchen und Ei füllen, in einer eingefetteten Glasschüssel backen, ein Leckerbissen, kalt oder warm.« Seit über zehn Jahren wärmt er seinen Hörern allwöchentlich den Ostrock auf, so wie er sich an ihn erinnert: als eine Art »Kessel Buntes«. Auf Schlager folgt Rock, danach singt ein Liedermacher. Auf den Flyern, die er als Werbung für seine Sendung in den Kneipen verteilt, tanzen Ampelmännchen und Fernsehtürme um streng dreinblickende Thälmänner und Honeckers herum, aus deren Mün­dern sozialistische Kraftsprüche ertönen: »Vorwärts immer, rückwärts nimmer!« Platten kauft sich Istvan keine mehr, er hat ja alles, was er braucht.

Akustische Archäologie

Das kann Uwe Beyer nun gar nicht verstehen. »Der Ostrock ist noch längst nicht komplett veröffentlicht!« sagt der jugendlich wirkende 50jährige und schüttelt seine blonde Glamrock-Mähne. Er arbeitet im Saturn-Markt Berlin-Treptow, der unter Ostrock-Fans einen guten Ruf genießt. Nicht, weil man hier besonders geizt, sondern weil nirgendwo sonst mehr CDs von »AG Geige« bis »Zöllner« zu finden sind. Das ist Beyers Verdienst, er ist für den Einkauf in dieser Filiale zuständig.

Der gelernte Maurer aus Magdeburg infizierte sich schon als Teenager mit dem Ostrock-Virus. Begeistert hörte er Radio, besuchte Konzerte, sammelte Platten. Immer wieder schrieb er »Eingaben« an Amiga, in denen er Aufnahmen von Musikern forderte, die seiner Meinung nach zu kurz kamen – vergeblich. »Die Gründe dafür waren jedoch nicht immer nur politischer Natur«, sagt er. »Dass die DDR eine Mangelwirtschaft war, galt auch für das Musikgeschäft: Mal gab es nicht genug PVC, dann kamen sie mit dem Hüllendruck nicht nach.« Zur Wendezeit war er Lagerist in Berlin, später eröffnete er einen eigenen Ostrock-Laden. Als sich Ende der Neunziger überall die großen Elektro­märkte mit integrierten CD-Abteilungen breitmachten, gab er auf.

»Für das Lebensgefühl vieler im Osten war Rockmusik enorm wichtig«, sagt er, »oft war die Rezeption der Texte ergiebiger als das Lesen der Zeitung!« Nebenbei ist er als Herausgeber tätig: Aus dem Rundfunkarchiv der DDR, das heute dem RBB gehört, fördert er immer neues unveröffentlichtes Material von vor 1990 zutage, das er bei dem kleinen Hamburger Label »Choice of Music« veröffentlicht. Dort erscheinen pro Jahr drei bis vier CDs, eine der letzten war Stephan Trepte gewidmet, einem Ausnahmekünstler, der u.a. Sänger der Band »Electra« war.

Die meisten Künstler, die Beyer mit seiner akustischen Archäologie vor dem Vergessen bewahrt, sind älter als er. Das trifft auch auf viele Fans zu, denen diese Musik noch immer so viel bedeutet, dass sie Geld dafür ausgeben. Zwar kann man dank Beyer nach wie vor Neues entdecken, doch diese CDs verkaufen sich nur wenige hundert Mal. »Trotz alledem« – der Ostrock lebt weiter: ob als privates Webprojekt wie www.ostmusik.de, an dem sich zahllose Fans beteiligen. Oder als Sonntag­nach­mit­tagsmusik beim Karlsruher Querfunk. Und wer weiß, wie viele Ostrock-Fans im ganzen Land die alten Lieder erklingen lassen – in ihren eigenen vier Wänden.

www.ostmusik.de, www.querfunk.de, www.choice-of-music.de