HJ, Beatles&DDR

Warum Helmut Kraussers schulmäßig gebauter Roman »Eros« nichts taugt. Von Jan Süselbeck

Wer lernen will, wie man einen Roman schreibt, lese dieses Buch. Nicht etwa, weil Helmut Kraussers vom Verlag groß angekündigtes DuMont-Debüt ein Geniestreich wäre. Sondern weil man hier studieren kann, was bei der Entstehung eines Werks mit einem überkandidelten Titel wie »Eros« so alles schief gehen kann.

Krausser tischt uns die abstruse Lebensgeschichte Alexander von Brückens auf, Erbe eines unermess­lich reichen Nazifabrikanten. Bereits im Luftschutzkeller verliebt sich der 14jährige von Brücken im Jahr 1944 Hals über Kopf in die schöne Arbeitertochter Sofie, neben der er im Feldbett nächtigen darf. Vor diesem scheu erlebten sexuellen Erwachen unter den misstrauischen Blicken der Eltern hat er schon ein paarmal mit zwei Kumpels um die Wette onaniert oder einer seiner jüngeren Zwillingsschwes­tern, CocoEins, frech auf den Bauch ge- – puh!

Die Anfangsatmosphäre des Romans erinnert verschwommen an das schwüle Dekadenz-Setting aus Luchino Viscontis dröhnendem Nazi-Kinomelodram »Die Verdammten« (1969), und Krausser schreckt in seiner pompös ausgestatteten Exposition nicht einmal vor schmierigem Kitsch zurück: »Dann wandte ich meine Nase ihrem höchstens zwanzig Zentimeter entfernten Unterleib entgegen und sog die Luft ein, wollte den Duft ihrer Scham erschnüffeln und bebte dabei vor Angst. Unter feuerrotem Himmel, bei brennendem Deutschland.«

Von Sex ist danach kaum noch die Rede. Krausser streut noch hin und wieder einige »Stellen« ein, die irgendwo zwischen den erotischen Welten eines Michel Houellebecq und eines Günter Grass liegen, aber damit hat sich’s dann auch – womit, nach den wenigen Kostproben zu urteilen, schon einmal Schlimmeres verhindert wurde. Der Protagonist ist nämlich unsterblich verliebt und kann fortan nie mehr von seiner unglücklich Angebeteten lassen. Es ist die alte Story mit dem alten Problem: Sofie gibt Alexander gleich zu Beginn einen Korb, und so dümpelt das gehemmte Leben des Protagonisten melancholisch dahin.

Im Grunde ist Brücken auf seine Art trotz seines unermesslichen Reichtums eine ähnlich arme Pfanne wie der sexuell frustrierte Kleinbürger Karl in Kraussers dramolettartigem Theaterstück »Über Los (Montag)«, der sich in einen Swingerclub wagt, jedoch der einzige Besucher ist und beim Bier so lange vom Kinderficken und Nähmaschinentempobumsen träumt, bis die entnervte Tresenkraft den Betrunkenen endlich rausschmeißt.

Für einen modernen Roman reicht so etwas noch lange nicht aus. Und richtig, Krausser legt erst richtig los. Zuallererst ist da die Herausgeberfiktion: Ein namenloser Autor, hinter dem der naive Leser natürlich Krausser selbst vermuten soll, wird vom sterbenden Brücken in sein geheimnisvolles bayrisches Schloss gebeten, damit er gegen ein fürstliches Honorar die Geschichte seines Auftraggebers aufschreiben und zu einem Roman verwursten kann, der den Tycoon nach seinem nahen Tod »unsterblich« machen wird. So kann Brücken ein bisschen wie einer dieser allwissenden und vulgärphilosophisch daherraunenden James-Bond-Bösewichte im voluminösen Lehnsessel inszeniert werden.

Schritt zwei: Die Geschichte, die er erzählt, wird nun

a) wörtlich nach dem mitlaufenden Tonband aus der Ich-Perspektive Brückens zitiert,

b) vom Autor, der mit dem wirren Material, das man ihm sonst noch so überreicht, nicht wirklich zurechtkommt, stichwortartig, also gewissermaßen im Zeitraffer zusammengefasst und

c) mit realen, dialogischen Abhörprotokollen durchsetzt.

Brücken baut nach dem Krieg regelrechte Geheimdienste auf, um Sofies linksradikalen Werdegang – von der biederen Kindergärtnerin über die ambitionierte Politologiestudentin bis zur gescheiterten RAF-Terroristin – als still leidender »Schutzengel« wachsam zu verfolgen und um in Ernstfällen selbstlos eingreifen zu können. An finanziellen Mitteln mangelt es ihm ja nicht.

Diese Schwindel erregende Konstruktion eines vom zweifelnden Kommentator – dem beauftragten Autor – der Nachwelt übergebenen Manuskripts, dessen einziger Bürge seine totale Unwahrscheinlichkeit ist, gemahnt in seiner zwischen sexueller Obsessionsstory und halsbrecherischem Spionagethriller pendelnden Zwitterform nicht nur epigonal an Friedrich Dürrenmatts spät vollendetes Frühwerk »Justiz«. Es soll zu allem Unglück auch noch, »wie nebenbei, über das katastrophale zwanzigste Jahrhundert« informieren, wie uns der unvermeidliche Daniel Kehlmann schon auf dem Schutzumschlag des Bands verspricht: »Mit ›Eros‹ hat Helmut Krausser seinen zugleich kraftvollsten und zartesten, auch seinen poetischsten Roman geschrieben: ein ganz, ganz großes Buch.«

Davon kann keine Rede sein. Denn was Krausser leider überhaupt nicht kann, ist, mit seinem Roman jenes investigative Bild einer kaputten HJ- und BDM-Generation zu zeichnen, das der Text von seiner Anlage her verspricht. Im Eiltempo wird ein Zeitpanorama vom Kriegsende über das so genannte Wirtschaftswunder, die Studentenbewegung bis zum »Deutschen Herbst« samt Sofies suizidalem Terroristinnen­exil in der DDR entwickelt. Aufgefüllt wird es mit einfallslos aus dem Lexikon abgeschriebenen und lieblos aufgelisteten Alltagsklischees der Nachkriegs-BRD und DDR-Ära.

Die Chance, gut zu erzählen, wird spätestens hier restlos verschenkt. In Wuppertal sitzt man zunächst in marxistischen Studentenkellern und hört Existenzialisten-Jazz, dann gibt es plötzlich »Halbstarke« und »Petticoats« auf der Staße, und Sofie vergießt »einige Tränen um die tote Weltraumhündin Laika«. Alexander entdeckt seine Liebe zu den »Beatles« und findet, dass »Revolver« ihr bestes Album sei, als auch schon der Schahbesuch in Berlin ansteht und Benno Ohnesorg tot ist usw. »Dank geht an Dr. Susanne Müller-Wolf, Leipzig, für Hinweise zum ›Alltag Ost‹«, lesen wir in einer Nachschrift. Und, noch komischer: »›Eros‹ entstand in der ersten Fassung 1997, in der siebzehnten und letzten 2005«. Wenn das wahr ist und Krausser wirklich so lange an diesem Gebilde gebastelt hat, so muss man sich fragen, was er die ganze Zeit eigentlich gemacht hat.

Krausser ist sonst einer der interessanteren Schriftsteller der neueren deutschen Literatur. Selbst »Eros« ist, von seiner fiktiven Verschachtelung, seinem Spiel mit verschiedenen Erzählperspektiven und dem Wechsel zwischen verschiedenen Tonlagen und Bearbeitungsgraden her, durchaus avanciert. »Was geschrieben steht, ist auf gewisse Weise geschehen«, munkelt Brücken einmal, um seinen Ghostwriter anzufeuern. Das erinnert an Wolfgang Koeppens Autobiografie »Jugend« (1976): »Das Gedichtete behauptet sein Recht, wie das Geschehene.« Dieser Anspruch ist gut. Der Roman leider nicht.

Helmut Krausser: Eros. Roman. DuMont Buchverlag, Köln 2006. 318 S., 19,90 Euro