Kunst aus der Klinik
Der Psychiater Leo Navratil ist tot. Er starb am 18. September im Alter von 85 Jahren an den Folgen eines Herzinfarktes. Doch obwohl Navratil mit seinen Methoden und seinen Schriften weltberühmt wurde, obwohl er erheblichen Einfluss auf die Musik, auf die Literatur und auf die moderne Malerei hatte, schwiegen die Feuilletons zumeist, lediglich in Österreich schickte man dem wohltätigen Mitbürger einige verdruckste Nachrufe hinterher.
Dabei wäre der Psychiater Navratil in einer gerechteren Welt als Wohltäter gefeiert worden, gelang es ihm doch, die künstlerischen Werke, die seine Patienten – größtenteils durch ihn ermutigt – herstellten, auch als solche anerkennen zu lassen, gerade indem er sie aus dem Objektstatus, den diese etwa in der Prinzhorn-Sammlung bis heute haben, löste. Zunächst stellte er Mitte der sechziger Jahre die Werke seiner Patienten in den Büchern »Schizophrenie und Kunst« und »Schizophrenie und Sprache« anonymisiert vor, dann, nachdem er es geschafft hatte, einige juristische Unwägbarkeiten zu beseitigen – wie etwa die Verletzung des Arztgeheimnisses –, konnte er die Arbeiten der ihm anvertrauten, sich ihm anvertrauenden Künstler auch offen verkaufen. Der Dichter Ernst Herbeck – der schon unter dem von Navratil benutzten Pseudonym »Alexander« für Furore gesorgt hatte – und die Maler Oswald Tschirtner und August Walla wurden daraufhin weltberühmt und sorgten mit ihren Werken für hohe Auflagen bzw. hohe Preise am Kunstmarkt.
Doch auch die weniger bekannt gewordenen Künstler, die in Anthologien publizierten, konnten zumindest stolz auf ihre Beträge sein und Anerkennung ernten. Navratil eröffnete in der Anstalt Gugging, in der er seit 1946 tätig war, 1981 ein inzwischen ebenfalls weltberühmtes »Haus der Künstler«, in dem die Anstaltsinsassen, soweit der gesetzliche Rahmen und die medizinischen Bedenken dies zulassen, selbstverwaltet arbeiten.
Das, was die eben erwähnten und die folgenden Bücher Navratils in der Kunstwelt auslösten, ist in wenigen Worten nicht zu beschreiben. Autoren wie Heinar Kipphardt, der sich sogar recht großzügig bei den von Navratil vorgestellten Texten bediente, Gerhard Rühm, Ernst Jandl, Elfriede Mayröcker, Elfriede Jelinek oder W.G. Sebald zeigten sich begeistert, die Einstürzenden Neubauten benannten eine Platte nach Oswald Tschirtner, die Malereien beeinflussten ganze Heerscharen von Künstlerinnen und Künstlern.
Zu dem Künstlerhaus hat sich inzwischen das »Art/Brut Center Gugging« (www.gugging.org) gesellt, dessen Eröffnung im Juni dieses Jahres Navratil noch erleben konnte. Ohne den Mut, den der anfangs von den Kollegen belächelte Navratil in den Sechzigern aufbrachte, hätten es die künstlerischen Projekte von Psychiatrisierten viel schwerer, es fehlten ihnen vermutlich weiterhin die Mittel und die Anerkennung. Das darf, bei aller berechtigten Kritik an den damals von Navratil benutzten Methoden (Schreiben nach Themenvorgabe, etc.), nicht vergessen werden. Leo Navratil hat dafür gesorgt, dass psychiatrisierten Künstlern die Anerkennung nicht mehr verweigert wird.
jörg sundermeier