Deutschland an die Leine!

Deutschland ist kein normales Land wie jedes andere, betonen Antideutsche. Richtig. Aber ist das gut? von ivo bozic
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Die WM lief noch, die Deutschland-Fähnchen flatterten überall im Wind, an einen Krieg im Nahen Osten dachte zu diesem Zeitpunkt niemand. Die Feuilletons verfielen der Deutschland-Euphorie, und jede und jeder hatte eine Meinung zum neuen Nationalismus. Der Artikel von Deniz Yücel in der Jungle World 25/06 über die Fähnchenschwenkerei während der WM löste dann auch in der Linken einigen Wirbel aus, meine Bekannten diskutierten engagiert über die Gefahren der nationalen Welle bzw. über die Frage, inwieweit die neue Form des Patriotismus, der sich zweifels­ohne weniger völkisch und rassistisch artikulierte als in den Neunzigern und der sogar von Migranten übernommen wurde, vielleicht sogar ein Fortschritt sein könnte.

Ich saß eines Abends in Berlin-Mitte am Kanal und berichtete einem Kollegen, der die aktuellen linken Diskurse nur am Rande verfolgt, von der Debatte. Der Kollege verstand das gar nicht so richtig. Gefährlicher finde er, wenn die Deutschen sich als etwas Besonderes betrachteten. Dass sie Teil einer fähnchenschwingenden, globalen »Gemeinschaft« sein wollten, sei doch eher beruhigend. Ich hielt dagegen. Deutschland als endgültig normalisierte, selbstbewusste Nation, das sei ein Schreckgespenst. Man habe das doch beim Irak-Krieg gesehen, wo der Output des deutschen Selbstbewusstseins hauptsächlich anti­amerikanisch gewesen sei. Und mit denselben Argumenten, mit denen man sich einerseits als kriegs- und leidgeprüfte und daher geläuterte »Friedensmacht« darstelle, würden auch Bundeswehreinsätze im Ausland gerechtfertigt, wenn sie Deutschland gerade nutzten. Deutschland dürfe nie aus seiner ganz besonderen historischen Schuld entlassen werden, erklärte ich.

Aber nun stellen Sie sich mal vor, sagte mein Gesprächspartner sinngemäß, Israel würde angegriffen und Deutschland bitten, sich an einer internationalen Truppe zum Schutz Israels zu beteiligen. Sollte man da wirklich auf der Sonderrolle Deutschlands beharren, sollte sich Deutschland wirklich neutral verhalten, sich dem Schutz Israels verweigern?

Ich hatte gute Argumente gegen diesen Vorhalt, aber es war, wie gesagt, bevor Israel an zwei Fronten angegriffen wurde. Nun ist genau jene Situation, die der Kollege damals hypothetisch in den Raum gestellt hatte, Wirklichkeit geworden. Noch ist der Uno- oder Nato-Einsatz im Libanon keine Realität, und eine deutsche Beteiligung ist alles andere als existenziell für deren Zustandekommen. Aber Israels Premierminister Ehud Olmert setzt alle Hoffnungen auf eine solche Truppe, sofern sie den Auftrag zur Entwaffnung der Hizbollah hat bzw. zum Zurückdrängen ihres Einflusses, und er hat Deutschland ausdrücklich eingeladen, sich daran zu beteiligen.

Wie wird nun der antideutsche Chor auftreten? Etwa gemeinsam mit der Friedensbewegung und israelfeindlichen Antiimps, die alles nur Erdenkliche gegen eine solche Kriegsbeteiligung vorbringen werden, wohl auch, wie nur zum Beispiel Gregor Gysi, die spezielle deutsche Verantwortung gegenüber Israel? Es stellt sich die Frage, was schlimmer wäre: Wenn Deutschland mit einem Einsatz zum Schutz Israels sich endlich vollständig als moralisch rehabilitiert ansehen würde und sich damit abschließend »normalisiert« von der »historischen Last« befreit fühlt, wie es Antideutsche als Horrorszenario an die Wand malen – oder wenn Deutschland sich, womöglich ähnlich verlogen-pazifistisch untermalt wie beim Irak-Krieg, einem internationalen Bündnis verweigern und sich bewusst nicht hinter Israel stellen würde.

Die Frage nach einer deutschen Beteiligung ist nicht aktuell, nicht die vordringlichste, und es gibt wirklich gute Gründe gegen einen solchen Einsatz. Sie dient hier nur als Folie, um über den deutschen Nationalismus zu sprechen. Genauer: Über die Frage, ob sich die antideutsche Linke nicht auf Dauer ins Abseits bzw. in ungewollte Allianzen manövriert, wenn sie bis zum letzten Atemzug die Sonderrolle Deutschlands reklamiert.

In den achtziger Jahren war ich sehr aktiv in der Friedensbewegung. Und als anarchistisch eingestellter junger Mensch hatte ich mich neben meiner Gegnerschaft zum Nato-Doppelbeschluss in meiner Friedensgruppe immer auch gegen die Genossen von der DKP und allgemein von der Sowjetunion abzugrenzen. Ein beliebtes Demo-Lied ging so: »Marschieren wir gegen den Osten? Nein. Marschieren wir gegen den Westen? Nein. Wir marschieren für ’ne Welt, die von Waffen nichts mehr hält, denn das ist für uns das Beste.« Klang logisch. Gerade so habe ich noch bemerkt, dass da etwas schief lief, als in Schwarzrotgold das Wort »Neutralität« riesengroß auf eine Hauswand in Kreuzberg gemalt wurde, gerade so noch die Kurve bekommen, aber es war knapp. Andere haben es nicht kapiert, und schon tummelten sich Nationalisten und Nazis wie Alfred Mechtersheimer bei den Grünen und in der Friedensbewegung.

Nationalstolz, volksgemeinschaftliche Verbrüderung – das ist alles nicht nur eklig, es ist auch höchst gefährlich. Und wer nicht bereit ist, diese schlichte Lehre aus der deutschen Geschichte zu ziehen, der ist entweder unglaublich dumm, oder er sympathisiert mit dem nationalen Selbstbewusstsein, das Deutschland in seiner finstersten Zeit an den Tag legte. Sehr anschaulich beschrieb Rainer Trampert in der Jungle World 28/06, wie auch der ach so freundliche Party-Nationalismus der Fußball-Weltmeisterschaft ein System von Zugehörigkeit und Ausschluss darstellte, wie repressiv der Anpassungsdruck war. Andere Beiträge in dieser Zeitung beschrieben treffend die Funktion des Nationalismus bei der sozialen Zurichtung und die außenpolitischen Konsequenzen eines wachsenden nationalen Selbstbewusstseins.

Es ist nach wie vor eine der herausragenden Aufgaben einer Linken, den Nationalismus abzulehnen, ja zu bekämpfen. Doch sollte man nicht hin und wieder die Argumente überprüfen und mit einer sich vielleicht auch wandelnden Realität abgleichen?

Anfang / Mitte der Neunziger war ich für Europa. Die erste Veranstaltung der Jungle World war im Juni 1997 eine mit Lothar Bisky und Jürgen Trittin. Bisky argumentierte gegen die Einführung des Euro und gegen die EU, weil er die EU als neoliberales Projekt ansah, Trittin hingegen war dafür: »Es ist relativ einfach, warum Grüne, und vielleicht auch andere Linke, für Europa sind – schlicht und ergreifend, weil sie keine Nationalisten sind. Eines der gelungensten protektionistischen Projekte war der deutsche Nationalsozialismus. Und wer das wiederholen möchte, dem wünsche ich dabei viel Spaß. Er wird auf meinen entschiedenen politischen Widerstand stoßen. Nein, nein, da bin ich ganz beinhart. Die Integration der Bundesrepublik, die Abkehr von jeglicher Form von Sonderweg in Europa, ist eine historische Leistung, die ich mir auf diese Weise nicht kaputtreden lasse. Ich bin und bleibe Antifaschist, und für mich ist Linkssein gleichzusetzen mit Antinationalismus, und das ist nicht vereinbar mit Protektionismus.«

Das war zu einer Zeit, als eine natio­nalis­tische, rassistische pogromartige Welle durch Deutschland rollte: Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Gollwitz. Die Integration, die Einbindung Deutschlands in irgendeine internationale Allianz, in irgendein domestizierendes, mäßigend wirkendes Größeres, die erschien nicht nur Jürgen Trittin als emanzipatorischer Strohhalm im schäumenden Meer des nationalen Wahns. Mit den Jahren nahm das neoliberale Europa immer mehr Form an, gleichzeitig ebbte die Pogromstimmung in der Bevölkerung ab (und aus Trittin wurde ein Bundesminister, der mit Deutschland-Wimpel auf dem Dienstwagen vorfuhr). Die Linke, und auch die antideutsche Linke, nahm sich nun der Kritik an Europa an. Die einen argumentierten gegen die neoliberale Ausrichtung und die soziale Anpassung nach unten, andere sahen die EU als Projekt, in dem Deutschland Dominanz erlangen und wieder eine größere Rolle im Weltgeschehen einnehmen könnte.

Wie sich die Einschätzung der EU in der Linken und bei mir im Laufe der Jahre gewandelt hatte und wie sehr die Furcht vor dem deutschen Nationalismus sie bestimmt hatte, daran musste ich denken, als ich während der WM bei einem Public Viewing und dem ein oder anderen Bier mit deutschen Freunden diskutierte. Angesichts der schwarzrotgoldenen Fahnen um mich herum, angesichts der Klinsmann-Begeisterung vieler meiner Freunde, des immer aggressiver werdenden Party-Mitmach-Drucks und des ganzen chauvinistischen Aufruhrs fühlte ich mich plötzlich wie an die Wand gedrückt – ähnlich wie Mitte der Neunziger. Und ich hörte mich sinngemäß so etwas sagen wie: Ich bin ja für ein europäisches Viertelfinale, und sowieso bin ich Europäer, und Europa ist toll. Ich trank noch ein Bier und erklärte, ich würde eine Europa-Fahne aus dem Fenster hängen nach dem Spiel. Einen Moment später wurde mir bewusst, was da gerade mit mir passiert war: Der deutsche Nationalismus machte mir Angst, und ich war auf der Flucht.

Und auch wenn Trittin in vielerlei Hinsicht falsch lag, schon allein weil Deutschland durch die EU eher an weltpolitischer Bedeutung gewonnen hat als verloren, so hatte er in jener konkreten Situation 1997 trotzdem Recht: Wenn es ernst wird mit dem deutschen Nationalismus, dann nutzt uns nicht die deutsche Sonderstellung, sondern nur Deutschlands Integration, dann muss man Deutschland an die Leine nehmen. Das heißt nicht, sich der historischen Verantwortung und der spezifisch deutschen Schuld zu entledigen, sondern im Gegenteil, gerade diesem gemeingefährlichen Deutschland keine Neutralität, keinen Sonderweg, keine Sonderstellung zuzubilligen.

Welche Schlüsse man daraus bezüglich aktueller politischer Fragen ziehen soll, weiß ich nicht, und dass die Einbindung in internationale Bündnisse Deutschland wirklich domestizieren hilft, darf zu Recht bezweifelt werden. Doch dass die antideutsche Linke angesichts des WM-Taumels diese Debatte komplett verweigert hat, ist ein Manko, und wenn sie diese Überprüfung ihrer Argumente nicht nachholt, wird sie mit ihrem ewig gleichen Strickmuster am Ende womöglich, ohne dass sie es merkt, eine hübsche Deutschland-Flagge häkeln.