Neue Klasse statt alter Masse

Ein Studie zur Stadtentwicklung und Soziologie Kairos bricht mit den Klischees von der arabischen Straße. von götz nordbruch

Sie ist bunt und sexy«, schrieb die Welt im März 2005 und meinte die »arabische Straße«. Hunderttausende protestierten in jenen Tagen in Beirut gegen die pro-syrische Regierung und forderten den Abzug der syrischen Besatzer. Im Irak fanden gerade Wahlen statt, und selbst in Ägypten demonstrierte der Präsident seine Bereitschaft zu einer politischen Öffnung des Landes. »Im Nahen Osten bricht die Demokratie aus. George W. Bush ist schuld und Europa schweigt«, fasste die Zeitung die Ereignisse zusammen.

Bunt und sexy ist sie, die »arabische Straße«. Aber geht der Dank dafür an George W. Bush? Und vor allem: Wird deswegen nun alles besser? Der Begriff der »arabischen Straße« beschreibt das, wofür man ansonsten den schlichten Ausdruck »Öffentlichkeit« wählt. Doch die besondere Wortwahl für die arabische Welt ist nicht zufällig. Der auch im Arabischen übliche Begriff suggeriert eine irrationale und unbändige Masse: Statt politischer und religiöser Strömungen, Parteien und Organisationen beherrscht ein dem Populismus seiner Führer ergebener Mob die arabischen Länder. Er tritt, so lässt sich die Annahme zusammenfassen, an die Stelle eines westlich-zivilisierten Kollektivs der Bürger.

Kairo gilt als Symbol einer solchen Unterwerfung des Einzelnen unter die unkontrollierte Masse. Wie kaum eine andere Stadt steht die 15-Millionen-Metropole gleichzeitig für die Explosivität und den Stillstand der gesellschaftlichen Verhältnisse in den arabischen Ländern: Sie ist bomb oder tomb, Bombe oder Grab. Die Kritik einer solchen gleichermaßen paternalistischen wie eurozentrischen Wahrnehmung ist Gegenstand einer von Diane Singerman und Paul Amar herausgegebenen Studie, die im Verlag der Amerikanischen Universität in Kairo erschienen ist. »Cairo Cosmopolitan – Politics, Culture and Urban Space in the New Globalized Middle East« enthält zwanzig Beiträge, von denen sich jeder einzelne als Einspruch gegen die Deutung Kairos als unbändigen Moloch lesen lässt. »Wo sind die handelnden Subjekte in diesen Bildern von der Bombe und in den Metaphern von der arabischen Straße, wo sind die Interessen, die Geschichten, die Institutionen und die Kämpfe, die Kairo und seine unterschiedlichen Bewohner ausmachen?«, fragen die Herausgeber in ihrer Einleitung.

Spätestens seit der Jahreswende 2004/2005 habe sich aus den öffentlichen Demonstrationen in Ägypten gegen den Irak-Krieg ein Protest entwickelt, der sich immer deutlicher gegen die bestehende Ordnung in Ägypten selbst wende, argumentieren die Autoren. Ein viel beachtetes Manifest aus dem Umfeld der Bewegung enthielt den bezeichnenden Aufruf, »die lang missbrauchte Einwilligung, regiert zu werden«, endlich zurückzuziehen. Im deutlichen Bruch mit den ideologischen Zwängen der vergangenen Jahrzehnte, die sich »entweder in verschwörungstheoretischen Nationalismen oder in puritanisch-moralischen Kreuzzügen« äußerten, sei in den vergangenen Monaten eine Bewegung entstanden, die für neue Formen von Partizipation und Staatsbürgerschaft kämpfe. Die jüngsten Entwicklungen, das Aufbegehren von Richtern und Journalisten gegen das autoritäre Regime Mubaraks, bestätigen die These.

Trotz des teilweise euphorischen Optimismus, den die Autoren angesichts dieser Entwicklungen verbreiten, unterscheidet sich ihre akademische Liebeserklärung an die Stadt deutlich vom Hype eines neuen farbenfrohen und demokratischen Nahen Ostens. Die Hoffnung auf ein kosmopolitisches Kairo bedeutet für sie nicht nur die Auflösung überkommener und homogenisierender Identitäten und die Schaffung einer kulturellen Vielfalt – es geht ihnen vor allem um deren Demokratisierung. Statt eines elitären und eurozentrischen Pluralismus, wie er sich unter dem Einfluss des britischen Kolonialismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in Kairo und Alexandria entwickelte, geht es hier um die Suche nach einem »Kosmopolitismus von unten«.

Nicht schon die Vielfalt als solche, sondern erst die ungehinderte Wahl markiert für die Autoren den Fortschritt gegenüber der Vergangenheit.

Aber auch dann ist Vielfalt nicht unbedingt ohne Makel. Die Verwandlung einer autoritären Monotonie in einen gesellschaftlichen Pluralismus ist nicht ohne Risiken, stellt sie doch in vielerlei Hinsicht lediglich eine Modernisierung von Repression und Hierarchie dar. Das Bild von Kairo als homogenem Moloch verdeckt insofern nicht nur die bestehenden Kämpfe und Möglichkeiten, es verstellt vor allem auch den Blick auf neue Formen der Herrschaft, die in traditionellen Beschreibungen der ägyptischen Gesellschaft keine Rolle spielen. Wo finden sich in diesen Wahrnehmungen »die realen sozialen, räumlichen und neuen institutionellen Akteure, die die aktuelle Repression im alltäglichen Leben der Stadt erst möglich machen«, heißt es in der Einleitung zu Recht.

Im Mittelpunkt der Studie stehen diese neuen kulturellen und räumlichen Hierarchien, die sich in der globalisierten Stadt seit dem Beginn der neunziger Jahre verfestigt haben. Neben einzelnen Beiträgen, in denen ideologische Kämpfe um eine Anerkennung ethnischer und religiöser Identitäten im staatlich sanktionierten Selbstverständnis nachgezeichnet werden – die Nubier sind hier ein Beispiel –, geht es in der Mehrzahl der Texte um räumliche Veränderungen, in denen ein exklusiver Pluralismus zum Ausdruck kommt.

Die Existenz von Gated Communities dokumentiert vielleicht am deutlichsten den Bruch mit der Masse. Die Entstehung von Dutzenden dieser weitgehend autarken Luxusviertel in der unmittelbaren Umgebung Kairos wird von Eric Denis als Verwirklichung einer »privaten Demokratie« beschrieben. Es entsteht ein Staat im Staate. Die Enklaven vermitteln mit ihrer eigenen Infrastruktur und dem Personal, das aus den marginalisierten Bevölkerungsgruppen des städtischen Zentrums rekrutiert wird, den Eindruck von Sicherheit. Als Gegenkonzept zur Metropole bieten sie nicht nur realen materiellen Komfort, sondern schließen auch in ideologischer Hinsicht an den herrschenden Diskurs eines elitären Pluralismus an. Eindringlich macht Eric Denis am Beispiel von Gated Communities deutlich, wie sich anti-urbane Rhetorik und repressive Politik mit Debatten etwa über Ökologie und Sicherheit vermischen.

Ökologie wird dabei als ein wichtiges Instrument zur Liberalisierung und Hierarchisierung der Gesellschaft beschrieben: »Aus der Sicht des Regimes ist eine ›gute‹ Umwelt nur in Zusammenarbeit mit der Geschäftswelt zu erreichen, die weiß, was auf dem Spiel steht. Die normalen Leute dagegen, die völlig ignorant sind, gibt es nur als diejenigen, die verschmutzen. Gated communities symbolisieren diesen Transfer und diese marktförmige Verwandlung der ökologischen Frage. (…) Ökologie dient dazu, den Apparat aufzubauen, mit dem man die Kontrolle des Raumes und der Bevölkerung sichern kann.«

Ebenso eindrucksvoll werden diese Wechselwirkungen von räumlicher Umstrukturierung und neoliberaler Ideologie von Mona Abaza am Phänomen der Shopping Malls beschrieben. Vincent Battesti stellt den Kairoer Zoo als umkämpften Ort staatlicher und gesellschaftlicher Interessen dar. Besonders aussagekräftig ist eine Studie von Anouk de Koning über die Bedeutung moderner Coffee Shops. Als Orte der gesellschaftlichen Mittel- und Oberschicht bieten die Cafés einen Freiraum, der insbesondere von jüngeren Paaren und Frauen genutzt wird. Der Bruch mit den Normen ist aber auch hier nicht nur ein Akt der Emanzipation. Er wird erkauft durch das exklusive Ambiente. Kleidung und vor allem die Preise sind hier die Kriterien, an denen der neue Pluralismus seine Grenzen hat.

Die Autoren lassen keinen Zweifel daran, dass ihnen diese Ambivalenzen bewusst sind. Als Forscher – egal ob mit ägyptischem, amerikanischem oder europäischem Hintergrund – sind sie in Kairo zwangsläufig einer gesellschaftlichen Elite zugehörig, die in vielerlei Hinsicht von den beschriebenen Phänomenen profitiert. Gerade deswegen ist der Band so lesenwert. Es geht den Autoren nicht um eine weitere Kritik der Globalisierung, sondern vielmehr um eine Nutzbarmachung der gesellschaftlichen Veränderungen als Alternative zur herrschenden Repression und zum ideologischen Stillstand.

Die Forderung nach politischen Freiheiten ist nur ein Teil dieses Projektes. »Bunt und sexy? Sehr gerne, aber bitte für alle!« – so ließe sich die Losung dieses Bandes auf den Punkt bringen. Zu einer Danksagung an George W. Bush ließen sich die Autoren daher nicht hinreißen.

Diane Singerman und Paul Amar (Hg.): Cairo Cosmopolitan. Politics, Culture and Urban Space in the new Middle East. Cairo Press, Kairo 2006, 542 S.