Vieles bleibt im Fluss

Hinter dem Drei-Schluchten-Staudamm wird der Yangzi bereits gestaut. Viele Landbewohner leiden unter der chinesischen Reform- und Öffnungspolitik. Eine Reise entlang des Gewässers unternahm volker häring (text und fotos)

Chongqing ist eine Stadt der Superla­tive. 31 Millionen Einwohner und Höchsttemperaturen bis zu 45 Grad im Schatten. Vor 1997 war die Stadt eher Provinzstadt als Megacity, bis sie im Zuge des Staudammbaus in den Drei Schluch­ten des Yangzi von der Pekinger Zentralregierung zur »regierungsunmittelbaren Stadt« erklärt und damit einer Provinz gleichgestellt wurde. Damit flossen die Regierungsgelder nun direkt nach Chongqing, anstatt den Umweg über die Provinzhauptstadt Chengdu zu nehmen. Seitdem boomt Chong­qing und erfreut sich seiner neuen Stellung als Vorzeigeobjekt für chinesische Binnenentwicklung im bisher vernachlässigten Hinterland.

Tatsächlich hat Chongqing jedoch keine 31, sondern nur sechs Millionen Einwohner im eigentlichen Stadtgebiet, die restlichen 25 Millionen kommen durch die Eingemeindung eines Gebietes von der Größe Ostdeutschlands zustande. Auch erreicht die Temperatur offiziell selten mehr als 39,5 Grad Celsius, denn sonst müssten die Behörden hitzefrei geben. Chong­qing ist ein Moloch, der sich in einen schicken Anzug zwängt und der das »chinesische Wirtschaftswunder« symbolisieren soll.

Am Chongqinger Busbahnhof, direkt gegenüber dem Passagierhafen, wo Fünf-Sterne-Touristen ihre überfüllten Koffer von Lastenträgern die steilen Ufer des Yangzi hinuntertragen lassen, ist die Luft dick wie Blei. Im Wortsinne, da ein gutes Dutzend großer Überlandbusse versucht, gleichzeitig in die einspurige Zufahrt des Bahnhofs zu gelangen. Durch übersteuerte Megaphone rufen die Schaffnerinnen die Fahrtziele aus, Minibusse schieben sich durch die Menschenmassen und versuchen, Passagiere von den langsamen staatlichen in die teuren und schnelleren privaten Busse zu lotsen.

Einige Meter weiter, an der Spitze der Chongqinger Halbinsel, wo der Yangzi und sein zweitgrößter Nebenfluss, der Jialing, zusammenfließen, hat die Stadtregierung mit dem Chaotian-Men-Platz ihre Version von einem öffentlichen Park in die Landschaft geklotzt. Propagandatafeln malen blitzende Skylines und fröhliche Menschen in den Himmel. Doch schon einige Meter weiter an den Docks erscheint der Mythos von der modernen Metropole fraglich.

Trotz aller Modernisierung gehört die »Bang-Bang-Jun«, die »Armee der Bambusstöcke«, weiterhin zum Stadtbild. Wanderarbeiter, die sich als Lastenträger in der Bergstadt Chongqing verdingen.

Dort, wo die Flusshänge für Maschinen zu steil sind, warten sie, gestützt auf lange Bambusstäbe, auf ihren Einsatz. Immer wenn es der auf zwei Ernten im Jahr ausgerichtete Pflanzzyklus erlaubt, wandern die Bauern des Chongqinger Hinterlandes in die Stadt, um als Hilfsarbeiter und Träger am Hafen von Chongqing zu arbeiten. Als Tragestange dient ein dicker, etwa zwei Meter langer Bambusstab, an dessen beiden Enden die Waren befestigt und dann geschultert werden. Die Lasten sind schwer, der Lohn niedrig und die Lebensbedingungen prekär.

Auch auf der Staudammbaustelle knapp 1      000 Kilometer flussabwärts verdingen sich einige tausend Wanderarbeiter. Nach der Fertigstellung des Mammutprojektes werden sie weiterziehen. Die heimische Scholle liegt derweil brach. In einem Land wie China, das mit sieben Prozent der Weltanbaufläche 20 Prozent der Weltbevölkerung ernähren muss, kein geringes Problem.

Während sich Chongqing reich und modern gibt, verblasst schon wenige Kilometer östlich der Stadt der Glanz der Metropole. Abrupt mündet die achtspurige Autobahn in eine schmale Landstraße, von den Häuserfassaden blättert das Grau. »Hier geht sowieso das meiste in den Fluten unter«, erzählt mir ein Mitpassagier während der Mittagspause. »Da lohnt es sich nicht, zu renovieren oder die Fassade zu streichen.« In Fuling, einer auf 50 Höhenmeter den Flusshang hinauf verlegten Stadt mit 100 000 Einwohnern, wird Chinas ehemals größte und entsprechend ruhmreiche U-Boot-Werft untergehen. Und etwa 200 Kilometer flussabwärts von Chongqing setzt die chinesische Regierung die Hölle unter Wasser.

Fengdu, nach dem Volksglauben der Sitz des Höllenkönigs, galt als Stadt der Geister, in der verlorene Seelen die Straßen entlang irrten und die Verdammten die letzte Reise antraten. Heute macht das alte Fengdu dem Namen Geisterstadt alle Ehre. Am Hafen stehen von den Häusern nur noch Skelette, während in der Nachbarschaft einige Bauarbeiter notdürftig Quartier in den ansonsten verlassenen Wohnungen bezogen haben. Die Stadt soll bis auf den als Höllensitz bezeichneten Berg geflutet werden. Im neuen Fengdu am gegenüberliegenden Ufer glänzen zwar neue Hochhäuser beiderseits großzügiger Prachtstraßen, so recht zu wohnen scheint hier aber noch niemand.

»Viele Leute arbeiten noch im alten Fengdu, dort gibt es noch mehr Geschäfte und Restaurants«, erzählt der Besitzer des einzigen Restaurants, das sich in der Innenstadt finden lässt. Schön sei es hier, im neuen Fengdu, sagt der Wirt, modern, und seine Wohnung sei auch größer. Die Nachbarn seien mit umgezogen und so hätten sich nach der Umsiedlung auch die alten Freundschaften erhalten. Im alten Fengdu verwandelt sich die Straße hinauf zum Höllenberg innerhalb weniger Meter von einer vierspurigen Schnellstraße in eine Schlammwüste. »The Hell in Fengdu – Tourist’s Paradise« steht auf einer krummen Werbetafel, die aus einem rötlich-braunen Dreckhaufen herausragt. Nach 2009 werden die Kreuzfahrtschiffe mit den Touristen direkt an der Hölle ankern, das alte Fengdu, in dem heute noch etwa 10 000 Einwohner leben, wird dann zu zwei Dritteln überflutet sein. Und vom neuen Fengdu werden die Touristen sicher keine Notiz nehmen.

Der Truckfahrer, der mich von Feng­du nach Zhongxian bringt, wohnt wenige Meter oberhalb der Flutungslinie. »Glück gehabt, oder?« versuche ich, das Gespräch auf die Umsiedlungsmaßnahmen zu bringen. »Ach was«, erwidert er und starrt wieder durch die Windschutzscheibe auf die holprige Straße. Zum Thema Umsiedlung möchte er nichts mehr sagen.

Tatsächlich kann es sein, dass er bald ebenfalls umziehen muss. Bei den ersten Planungen war man davon ausgegangen, dass alle Menschen unterhalb der 177-Meter-Marke umgesiedelt werden müssen. Bis einige Kritiker zu Recht anmerkten, dass nur zwei Meter Karenz zur Flutungsgrenze ein hohes Risiko für die Anwohner darstellten, zumal da der Staudamm für ein Wasserlevel von bis zu 181 Metern ausgelegt ist. Inzwischen ist man seitens der Behörden dazu übergegangen, auch Stadtbewohner zwischen der 177- und der 181-Meter-Marke umzusiedeln. Geld für die Umsiedlung und eine eventuelle Entschädigung ist allerdings nicht mehr vorhanden, so dass die geschätzten zusätzlichen 300 000 späteren Umsiedler leer ausgehen.

Der Taxifahrer, mit dem ich von Zhongxian aus in die historische Hafenstadt Xituo fahre, ist um einiges gesprächiger. Wir fahren an einer großen stadionähnlichen Bauruine vorbei. »Die Sporthalle«, sagt Herr Liu, »jede Kleinstadt am Yangzi zwischen Chongqing und Yichang hat eine.« Das Geld sei da gewesen, also habe man es für Vorzeigeobjekte verbaut. Die Mittel fehlten dann bei der Umsiedlung und vor allem für die mit dem Staudammbau verbundenen Infrastrukturmaßnahmen. »Schau dir den verdammten Mist an!«, flucht er, als sein VW Santana wieder mal in ein Schlagloch kracht. Ein Jahr sei die Straße alt, aber am Material wurde gespart. Im Abstand von wenigen Kilometern ist die Asphaltdecke regelmäßig für wenige hundert Meter unterbrochen. »Lange hat man die Straßenarbeiter gar nicht bezahlt, da haben die aus Protest immer mal ein Stück ausgelassen und nicht geteert«, erzählt Liu. Als dann der Lohn ausbezahlt wurde, habe es kein Geld für das Material gegeben, oder die Maschinen waren bereits abgezogen.

Xituo, dessen graue Häuser sich kaum von den leer stehenden Industrie- und Hafenanlagen an den Yangzi-Hängen absetzen, ist heute eine Kleinstadt fern jeder wirtschaftlichen Bedeutung. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war es noch eine der wichtigsten Hafenstädte am oberen Yangzi und hatte mit über vier Kilometern einst die längste Hafentreppe Chinas. 2009 wird fast die Hälfte davon unter Wasser stehen.

Ein Lastenkahn nimmt mich flussabwärts nach Fengjie mit. Dreckig sei der Yangzi nach der ersten Flutung 2003 geworden, erzählt der Kapitän. »Sollte nicht jede Stadt oberhalb des Staudammes eine Kläranlage bekommen?«, frage ich ihn. »Das einzige, was die geklärt haben, sind die staatlichen Gelder«, erwidert er. In den großen Städten sei alles mehr oder weniger nach Plan gelaufen, da habe die Zentrale in Peking noch ihre Augen und Finger drauf. »Hier auf dem Land«, sagt er und deutet mit einer weit ausholenden Geste auf die Yangzi-Ufer, »ging das Geld oft direkt in die Taschen korrupter Kader«.

Von den lokalen Parteikadern über den Tisch gezogen und von der Zentralregierung im Stich gelassen fühlte sich auch der Bauer Fu Xiancai. Als er sich wehrte und seine Probleme in einem ARD-Interview schilderte, wurde er von Unbekannten zusammengeschlagen und wird wahrscheinlich von der Schulter abwärts gelähmt bleiben. Viel Geld ist illegal in die Taschen lokaler Kader geflossen, die nun fürchten, enttarnt zu werden. Oft geht die Korruption bis in die oberen Kaderebenen, so dass vieles vertuscht wird.

Manchmal wird jedoch auch ein Exempel statuiert. Als vor einigen Jahren an einem Nebenfluss des Yangzi eine neu gebaute Brücke einstürzte und sich herausstellte, dass der zuständige Bürgermeister Baumaterialen abgezweigt und verkauft hatte, wurde dieser in einem von der chinesischen Presse groß herausgestellten Prozess zum Tode verurteilt. Vielleicht wird die Öffentlichkeit, die der Fall Fu Xiancai auf sich zog, dafür sorgen, dass seiner Beschwerde nachgegangen wird. Die meisten Fälle, in denen lokale Beamte die von der Zentralregierung bereitgestellten Gelder lieber in Autos, Bordellbesuche und Karaoke investieren als sie der Bevölkerung zukommen zu lassen, werden jedoch weiterhin unter den Teppich gekehrt werden.

In Fengjie, knapp 500 Kilometer flussabwärts von Chongqing beginnen die berühmten Drei Schluchten. Bis heute bilden sie die schnellste Verbindung zwischen Ost- und Westchina und spielen bei dem Plan der Pekinger Regierung, den strukturschwachen Südwesten des Landes zu entwickeln, eine zentrale Rolle. Während auf der Straße ein Umweg von mehreren hundert Kilometern in Kauf genommen werden muss, erreicht man Yichang am Ostende der Drei Schluchten selbst mit den zutreffend »Manchuan«, langsames Boot, genannten Linienschiffen in weniger als einem Tag. Während die Kreuzfahrtschiffe inzwischen sehr luxuriös sind, hat man die mit dem Ausbau des chinesischen Schnellstraßennetzes ohnehin bald überflüssig werdenden Passagierschiffe im Liniendienst dem schleichenden Verfall preisgegeben. Selbst die erste Klasse ist oft nur ein einfacher Verschlag mit Außentoilette, in der 3. Klasse schläft man mit zwanzig Mitreisenden in einem Schlafsaal unter Deck, nachts werden die Türen abgeschlossen. Die 4. Klasse, ein Sitzplatz am Oberdeck, ist jedoch die ideale Alternative für eine Tagfahrt durch die Drei Schluchten.

»Du weißt, dass es hier schönere Schiffe gibt«, fragt mich ein alter Bauer, der sich wohl wundert, warum ich nicht mit einem der Luxusschiffe fahre. Er fährt zu seinem Sohn in Wuhan, der dort studiert. »Ingenieurswesen!« sagt er stolz. »Dann kann er später mal am Staudamm Arbeit finden!« Ach ja, Probleme gebe es schon mit dem Projekt, das wisse jeder, aber eigentlich sei er stolz, dass das einst so rückständige China so ein Projekt zustande bringe. Klimawandel, Risse im Staudamm, Ökokatastrophe, soziale Unruhen und drohendes Umkippen des Yangzi, die Gefahren sind auch in China weitgehend bekannt, dennoch sehen viele Chinesen auch die Vorteile. Als solche werden Flutprävention, Stromgewinnung, Binnenentwicklung und die Verbesserung der Navigation auf dem Yangzi genannt. Dabei hatten 177 der knapp 3 000 Delegierten des Nationalen Volkskongresses 1993 gegen den Staudammbau gestimmt, 664 enthielten sich der Stimme. In einem Parlament, das normalerweise Entscheidungen mit über 90 Prozent Ja-Stimmen trifft, sagt das viel aus über die widersprüchlichen Erwartungen. Inzwischen schwankt man zwischen Resignation, Pragmatismus und Stolz, vor wenigen Wochen wurde der Staudamm fertig gestellt und die finale Flutung wird voraussichtlich schon 2007 erfolgen.

Durch das Bullauge ziehen die bis zu 1500 Meter hohen Berge der Drei Schluchten vorbei. Über den scheppernden Bordlautsprecher rattert die Schiffsreiseleiterin die Geschichte und die Sehenswürdigkeiten der Drei Schluchten fast in einem Atemzug herunter. In Sandouping hält sie kurz inne und sagt dann mit Stolz in der Stimme: »Wir erreichen nun den größten Staudamm der Welt, 185 Meter hoch und 2,3 Kilometer lang. Ein Wunder der chinesischen Ingenieurstechnik.«

Der Staudamm entwickelt sich zu­sehends zu einer Touristenattraktion. Mehr als tausend in- wie ausländische Besucher besichtigen die Baustelle täglich, Fotografieren ist explizit erwünscht, nur Taschentücher gelten als potenzielle Gefahr und müssen vor Betreten des Staudammes abgegeben werden. Probleme habe es viele gegeben, erzählt der Reiseleiter, inzwischen habe man aber alles unter Kontrolle. Im Souvenirladen informieren Hochglanzbroschüren in aller Offenheit über die Gefahren des Staudammprojektes. Allerdings nur auf Englisch und Deutsch, nicht auf Chinesisch.

Flussabwärts liegen die Millionenstädte Wuhan, Nanjing und Shanghai und die boomende ostchinesische Ebene, deren Energiehunger einer der Hauptgründe für den Bau des Drei-Schluchten-Staudammes war. Ganz im Osten, in der Shanghaier Sonderwirtschaftszone Pudong, im Schatten der spiegelverglasten neuen Hochhäuser, sollen nun die Bauern aus den Drei Schluchten, für die bei der Umsiedlung kein besserer Ort gefunden wurde, am chinesischen Wirtschaftswunder teilhaben, mehr als 2 000 Kilometer vom Heimatort und ihren ursprünglichen Feldern entfernt. Während Millionen von Landbewohnern illegal in Chinas großen Städten wohnen und arbeiten, wären sie gerne zu Hause geblieben.