»Das tut uns weh«

Ein Gespräch mit der Vorsitzenden der hessischen SPD und Parteilinken andrea ypsilanti über die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Stimmungsmache gegen Arbeitslose und die Reform der Unternehmenssteuer.

Was raten Sie den 9 000 Arbeitern von Siemens, die möglicherweise wegen der Fusion mit Nokia entlassen werden, oder den 7 500 Beschäftigten, die bei der Allianz im Gespräch sind? Etwa, dass sie auf dem Arbeitsamt nicht alles beantragen sollen, was geht?

Nein, diese Diskussion würde ich so nie führen. Es gibt Recht und Gesetz, und was einem Arbeitslosen zusteht, das bekommt er auch. Man muss ja umgekehrt auch sagen, dass die großen Unternehmen alles absetzen, was absetzbar ist. Ein Arbeitsloser ist mit Sicherheit in einer prekären Situation.

Eigentlich müsste man die Mitbestimmung ausdehnen. Unternehmen, die hohe Gewinne machen, müsste die Entlassung von Arbeitnehmern erschwert werden. Das Mitbestimmungsrecht müsste dahingehend erweitert werden, dass es nur aus dem Grund, weil man die Gewinne steigern will, keine Entlassung geben darf.

Sie wissen natürlich, worauf meine Frage anspielt. Kurt Beck, der Vorsitzende der SPD, hat die Arbeitslosen kritisiert und gesagt: »Man muss nicht alles rausholen, was geht.«

Haben Sie das ganze Interview gelesen?

Das Zitat wird so von allen Agenturen wiedergegeben.

Er hat seine Kritik in der Tat auf alle gemünzt, nicht nur auf die Arbeitslosen. Er hat ganz allgemein gesagt, man sollte sich das immer überlegen, und da hat er die Unternehmer durchaus mit gemeint.

Es ist doch ein großer Unterschied, ob ein Arbeitsloser seinen Anspruch wahrnimmt oder ein Unternehmer seinen Gewinn maximiert.

Das habe ich ja gesagt. Das ist ganz eindeutig sortiert.

Trotzdem stellt sich der Verdacht ein, dass die SPD viel von sozialer Gerechtigkeit redet, aber es am Ende nicht weit damit her ist. Nehmen wir das Beispiel der Mehrwertsteuer. Im Wahlkampf hatte Ihre Partei gesagt, mit ihr gebe es keine Erhöhung. Jetzt wurde sie sogar noch um einen Prozentpunkt mehr erhöht, als die CDU damals angekündigt hatte.

Ich bin darüber überhaupt nicht glücklich. Daraus habe ich nie einen Hehl gemacht. Aber es ist eben eine Tatsache, dass wir uns nicht aussuchen konnten, mit wem wir regieren. Es gab seitens der Grünen und der FDP eine Verweigerungshaltung. Wir müssen mit der CDU regieren, und da bleiben Kompromisse nicht aus. Das tut uns weh, das muss man auch nicht wollen, aber es muss jetzt gemeinsam getragen werden.

Ein Kompromiss wäre ja dann eine Erhöhung auf 17 Prozent gewesen, jetzt sind es 19 Prozent. Es ist ja allgemein bekannt, dass diese Erhöhung eher die einfachen Leute trifft.

Das ist richtig. Aber der Bundestag hat das jetzt so beschlossen. Es ist einfach müßig, jetzt noch darüber zu diskutieren. Man muss sehen, dass das, was noch an Reformen ansteht, nicht die Kassen der kleinen Leute trifft.

Die Kassen scheinen immer dann leer zu sein, wenn es um den Sozialstaat geht, und wenn es gilt, die Unternehmer zu entlasten, ist das Geld plötzlich da. Die Bundesregierung plant, die Körperschaftssteuer zu senken, eine Entlastung in der Höhe von zehn Milliarden Euro für Unternehmer ist im Gespräch.

Die Reform der Unternehmenssteuer steht auf meiner Tagesordnung ganz unten. Andere Reformen sind zur Zeit viel wichtiger, zum Beispiel die Gesundheitsreform. Man muss aber auch einmal grundsätzlich die Diskussion führen: Welchen Sozialstaat wollen wir, und was darf er kosten? Ich finde, die Deutschen sollten sehr stolz sein auf ihren Sozialstaat, der von unseren Vätern und Müttern mit aufgebaut und finanziert wurde. Und weil sie ihn finanziert haben, sollten sie jetzt auch etwas davon haben.

Die Unternehmenssteuerreform darf nur kommen, wenn sie im eigenen Lager aufkommensneutral finanziert wird. Und wenn die Unternehmen endlich mal das wahrmachen, was sie uns immer versprochen haben. Bei der letzten Unternehmenssteuerreform wurde gesagt: Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen. Es gibt viele Unternehmen, die hohe Gewinne gemacht haben und trotzdem die Leute entlassen.

Immer mehr Leute werden auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gebraucht, und trotzdem wird gegen die Arbeitslosen Stimmung gemacht. Stefan Müller von der CSU hat die Einführung eines »Gemeinschaftsdienstes« gefordert, die Arbeitslosen sollten täglich auf dem Arbeitsamt antreten.

Ich würde nie einen Arbeitslosen verunglimpfen. Arbeitslosigkeit ist kein Schicksal, das man sich selbst wählt. Arbeitslos wird man, weil die Verhältnisse so sind, wie sie sind. Ein Arbeitsloser hat ein Recht, in Würde in dieser Gesellschaft zu leben, ohne an den Rand gedrängt zu werden. Wenn jemand abfällige Bemerkungen macht, dann müssen sie schon diese Person fragen. Ich bin dafür die falsche Adresse.

Sie sind eine Vertreterin der Linken in der SPD und haben auch schon die Politik von Gerhard Schröder kritisiert. Warum hört man derzeit so wenig aus Ihrem Lager? Hat das mit der Großen Koalition zu tun? Mit dem neuen Parteivorsitzenden? Es scheint recht ruhig geworden zu sein. Oder täusche ich mich?

Nein, da täuschen Sie sich nicht. Man muss die Diskussion über den Sozialstaat führen, und wir werden sie auch führen. Wir schreiben immerhin ein neues Parteiprogramm, da bringt sich die Linke massiv ein. Diese Diskussion ist aber noch nicht im Tagesgeschäft vernehmbar. Und gerade in der Frage der Gesundheitsreform hat sich die Linke sehr stark dafür eingesetzt, dass diese Reform nicht auf Kosten der Menschen mit geringem Einkommen geht.

Es ist offenbar noch nicht sicher, ob diese nicht doch wieder draufzahlen. Als Geringverdiener ist man damit konfrontiert, dass alles immer teurer wird: Strom, Gas, möglicherweise die Gesundheitsversorgung. Es gibt immer mehr working poor, die arbeiten, aber trotzdem kaum davon leben können. Was schlagen Sie in dieser Frage vor, außer dass das Geld bei den Arbeitslosen noch weiter gekürzt werden muss, um den Abstand zu den Löhnen zu bewahren?

Es ist überhaupt nicht das Thema, dass das Arbeitslosengeld II gekürzt werden muss, um den Lohnabstand zu den Geringverdienern zu halten. Wir müssen darüber reden, dass die Leute, die arbeiten, auch einen Lohn erhalten, von dem sie sich und ihre Familie ernähren können. Das muss die Maßgabe sein. Und da sind wir in der Diskussion um die Mindestlöhne angekommen. Wir werden nicht darum herumkommen, Mindestlöhne festzulegen, gerade jetzt, da Europa zusammenwächst und wir auf dem Arbeitsmarkt Konkurrenz aus anderen Ländern haben. Wenn wir einen europäischen Sozialstaat erhalten wollen, dann brauchen wir Mindestlöhne.

Ist die derzeitige Politik nicht auf die Formel zu bringen: Unter der Großen Koalition verschuldet sich der Staat noch mehr, noch mehr Leute verarmen und die Unternehmer entlassen noch mehr Menschen?

Das werden wir nicht zulassen. Das würde die Große Koalition mit der SPD nicht überleben.

interview: stefan wirner