Prä-, Post- und Neo-Neocons

Die Konservativen in den USA sind zerstritten. Die Kritik an George W. Bush wächst, ein Nachfolger für ihn aber ist nicht in Sicht. von richard gebhardt

After Neoconservatism« war der Titel eines Essays in der New York Times vom 19. Februar, der international Aufsehen erregte. Sein Verfasser war der an der Washingtoner John-Hopkins-Universität lehrende Politologe Francis Fukuyama, der Anfang der neunziger Jahre mit seinem Bestseller über »Das Ende der Geschichte« ein Leitmotiv für den Triumphalismus des »freien Westens« nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion prägte. Angesichts des Desasters im Irak rechnete Fukuyama nun mit der Bush-Doktrin und ihren neokonservativen Apologeten ab. Die Kritik verstärkt die andauernde Legitimationskrise des US- Präsidenten, dessen zweite Amtszeit von Naturkatastrophen, Korruptionsskandalen und politischen Niederlagen überschattet wird.

Bereits im Herbst titelte The Economist: »What’s Gone Wrong for America’s Right«, und Newsweek fragte: »Is America’s Right Wing Melting Down?« Bush erreicht in Umfragen derzeit nur noch 38 Prozent. Mit Fukuyama verabschiedet sich auch der einstige Vordenker der Neocons von jener politischen Gruppierung, die als der zentrale Planungsstab für die neuen Kriege der US-Regierung gilt. Wurde ein führender Neokonservativer von der Realität eingeholt? Und was bedeuten die ideologischen Streitigkeiten der US-Konservativen für die Zukunft der Grand Old Party der Republikaner?

Neocon History

Die in Think Tanks wie dem Project for the New American Century (PNAC) oder dem American Enterprise Institute (AEI), in Zeitschriften wie Weekly Standard, Commentary oder National Interest und zahlreichen anderen Instituten und Stiftungen vernetzten Neo­cons wurden als masterminds der »Bush-Doktrin« ausgemacht. In der im Jahr 2002 vorgestellten nationalen Sicherheitsstrategie der USA wurde die Option für präventive Militärschläge und die militärische Durchsetzung von Freiheit und Demokratie im Nahen Osten festgelegt. Politiker wie der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister und heutige Präsident der Weltbank, Paul Wolfowitz, oder der Sicherheitsexperte Richard Perle galten als die prominentesten Protagonisten der Neocons.

Der Eifer, mit dem die Strategie des regime change propagiert wurde, war von Beginn an auch in der konservativen Bewegung der USA umstritten. Von vielen Traditionskonservativen wurden die zumindest in der ersten Generation häufig aus den Reihen der Demokraten stammenden Neocons als Fremdkörper in der Partei angefeindet. Heftig wurde in den vergangenen Jahren spekuliert, welchen Einfluss die philosophischen Schriften des deutsch-jüdischen Emigranten und Chicagoer Plato-Kenners Leo Strauss auf die Außenpolitik der USA haben.

Der Gründungsmythos der Neocons führt in das City College New York (CCNY) Ende der dreißiger Jahre. Trotzkisten wie Irving Kristol, der als Begründer des Neokonservatismus gelten kann, brachen als Reaktion auf den stalinistischen Terror in der Sowjetunion mit ihren ursprünglich sozialistischen Ideen und analysierten später in Zeitschriften wie Commentary oder der im Frühjahr 2005 eingestellten Public Interest die wohlfahrtsstaatliche Politik des New Deal.

Die Agenda der Neokonservativen war von einem militanten Antikommunismus und einer Skepsis gegen die sozialpolitische Technik des social engineering gekennzeichnet. Nachdem im Jahr 1972 der linksliberale Senator George McGovern Präsidentschaftskandidat der Demokraten geworden war, verabschiedeten sich Kristol und andere Vertreter der ersten Generation der Neocons von der Demokratischen Partei und etablierten sich schließlich in der Ära Ronald Reagans im Umfeld der Repu­blikaner.

Die ungewöhnliche Geschichte von den geläuterten trotzkistischen Sektierern und Straussianern, aus denen sich die Neocons rekrutieren, wurde so oft kolportiert, dass allein die Wiederholung der Saga deren Wahrheitsgehalt zu steigern scheint. Tatsächlich aber war Kristol, der als einer der wenigen aus den einstigen Zirkeln an der CCNY ab dem Jahr 1972 die Bezeichnung neoconservative als Ehrentitel akzeptierte, höchstens zwei Jahre Trotzkist. Der Philosoph Leo Strauss, dessen Interpretation der »noblen Lügen« Platos als Vorlage für die gezielte Manipulation gilt, die von der CIA und der Regierung Bush im Irak-Krieg betrieben wurden, war nie ein explizit politischer Denker. Doch die Rede von den konspirierenden jüdischen Emigranten und Renegaten aus New York ist anscheinend zu verführerisch. Man möchte nicht von ihr lassen.

Ab 1985 wurde mit der Gründung der Zeitschrift National Interest das außenpolitische Terrain stärker sondiert. Publizistisch wurde Ronald Reagans Kampf gegen das »Reich des Bösen« unterstützt, der heute noch in der Rede von der »Achse des Bösen« nachhallt. Die von Neocon-Organen wie dem Weekly Standard aufgestellten Forderungen nach einem regime change im Irak und in Afghanistan machten bizarre Begriffe wie den vom »demokratischen Imperialismus« populär. Das unilaterale Vorgehen gegen Diktaturen wie das irakische Ba’ath-Regime und der »Universalismus der Menschenrechte« gehören fest zum neokonservativen Denken, gegen das sich Altkonservative wie der Befürworter des Isolationismus und Herausgeber des American Conservative, Patrick J. Buchanan, bereits seit der ersten Amtszeit von George W. Bush wandten.

Bashing Bush

Auch Fukuyamas jüngste Kritik an Bush, die einen vorläufigen Höhepunkt in der Debatte über den Einfluss der Neocons auf die Außenpolitik der US-Regierung darstellt, ist keineswegs neu. Schon im Jahr 2004 kritisierte der ehemalige Mitarbeiter von Paul Wolfowitz die Bush-Doktrin und zog damit den Zorn von neokonservativen Publizisten wie Norman Podhoretz oder des Kolumnisten der Wa­shing­ton Post, Charles Krauthammer, auf sich. Seine Einwände gegen die US-Außenpolitik der Gegenwart hat Fukuyama nun in dem Buch »America at the Crossroads« (auf Deutsch: »Scheitert Amerika? Supermacht am Scheideweg«) zusammengefasst. Einen konsequenten Bruch mit dem Neokonservatismus, dessen Ideengeschichte er noch einmal anschaulich nachzeichnet, vollzieht Fukuyama jedoch nicht.

Auch weiterhin hält er die Ziele der Neocons, die Verbreitung von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten für so amerikanisch wie Apfelkuchen. Seine öffentliche Intervention richtet sich vor allem gegen die unilateralen und militärischen Mittel, mit denen die US-Regierung ihr Programm durchgesetzt hat. Der Preis dafür ist Fukuyama zu hoch. Die Falken des Weekly Standard und des AEI hätten dafür gesorgt, dass die öffentliche Meinung die Neocons »unwiderruflich mit der Politik der Bush-Regierung gleichsetzt«. Fukuyama polemisiert gegen die Illusion, die USA könne als »wohlwollender Hegemon« das neokonservative Programm weltweit ohne Schaden für das eigene Ansehen durchsetzen.

Bereits in der im November 2005 erschienenen Jubiläumsausgabe zum 60jährigen Bestehen des Commentary schrieb Fukuyama über die Konsequenzen der Bush-Doktrin: »Ob uns das gerecht wird oder nicht – in jedem Fall ist das Symbol Amerikas nicht mehr die Freiheitsstatue, sondern der vermummte Gefangene von Abu Ghraib.« Er plädiert deshalb für soft power und einen »multi­plen Multilateralismus«, für internationale Koope­ration und Diplomatie. Doch auch er will »Präventivkriege und Regimewechsel durch Militärinterventionen« nicht völlig ausschließen.

New Generation

Ein Renegat im klassischen Sinne ist Fukuyama nicht. Er steht eher für die Neuformierung der Neokonservativen der zweiten Generation, die im Jahr 2005 mit der Zeitschrift American Interest ein neues internationales Forum gegründet haben, in dem neben Fukuyama auch Vertreter anderer außenpolitischer Schulen wie der ehemalige Sicherheitsberater Jimmy Carters, Zbigniew Brezinski, und Publizisten wie der Mitherausgeber der Zeit, Josef Joffe, oder der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy zu Wort kommen. Hier wird ein »neokonservativer Realismus« formuliert, dessen Protagonistin US-Außenministerin Condoleezza Rice ist.

Die bellizistischen Sprecher der Neocons, der Herausgeber des Weekly Standard, William S. Kristol, Sohn und Erbe des Gründungsvaters, der Publizist Robert Kagan und Charles Krauthammer sind in die Defensive geraten. Ende März schrieb Krauthammer in seiner Kolumne: »Jetzt tun plötzlich alle so schockiert, weil Iraker auf Iraker losgehen. Aber war das nicht genau unsere Strategie, die Iraker, die einen neuen Irak wollen, diejenigen Landsleute bekämpfen zu lassen, die das Ba’ath-Regime wiederaufbauen oder eine Art Taliban-Regime installieren wollen?«

Angesichts der Vorstellungen vom befreiten Irak, die nach dem von George W. Bush am 1. Mai 2003 verkündeten Ende der wesentlichen Kampfhandlungen verbreitet wurden, zeigt Krauthammers Reaktion den Realitätsverlust der Wortführer des Irak-Kriegs und das Elend des »demokratischen Imperialismus«. Die außenpolitische Bilanz für die USA ist ernüchternd: Statt Freiheit, Demokratie und Menschenrechte im Nahen Osten zu verbreiten, stabilisierte man in Palästina und im Iran islamistische Regime, die Antiamerikanismus und antisemitische Vernichtungsphantasien propagieren.

After Bush

In den USA herrscht eine Stimmung, die von einem Stück der neuen Platte Neil Youngs auf den Punkt gebracht wird: »Lookin’ For A Leader«! Young rechnet aus der Perspektive des patriotischen kleinen Mannes mit Bushs Kriegskabinett ab.

Ein traditionskonservativer Gegenkandidat zu George W. Bush ist jedoch nicht in Sicht. Es zählt zu den Besonderheiten der Republikanischen Partei, dass sie stets auch scheinbar antagonistische rechte Strömungen unter sich versammeln konnte. Libertäre Marktradikale und christliche Fundamentalisten, isolationistische America-Firster und pro-interventionistische Neocons, Sozialkonservative und Neoliberale ringen im Umfeld der Partei um Programme und Posten. Um die Widersprüche zur Agenda der Neocons in der Realpolitik des Prä­sidenten zu erklären, flüchtet sich der Chefredakteur des Weekly Standard, Fred Barnes, in Banalitäten: »Präsident Bush ist ein konservativer Politiker, kein konservativer Ideologe.« »Where Have All the Conservatives Gone?« rätselt auch der American Conservative und beklagt die Einflusslosigkeit rechter Republikaner.

Zwar dauert die Amtszeit des Präsidenten noch über 1 000 Tage, doch die Suche nach einem Nachfolger hat inoffiziell bereits begonnen. Doch weder Traditionsrechte wie Chuck Hagel, ein Senator und Kritiker Bushs, noch der Kongressabgeordnete Tom Tancredo, ein entschiedener Gegner weiterer Einwanderung, haben ernsthafte Chancen bei der Kandidatenkür. Da die Parteien in den USA eher political machines, temporäre Organisationen zur Präsidentschaftskür, denn lebendige Institutionen sind, nutzt die US-Rechte ihre zahllosen Stiftungen, Fernseh- und Radiostationen, Bildungsstätten und Universitäten für ihren Einfluss auf die Republikaner.

Dem neben dem ehemaligen New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani derzeit aussichtsreichsten Kandidaten für die Nachfolge Bushs, dem moderaten Senator John McCain, wurde Mitte Mai an der evangelikalen Liberty University vom Gründer der fundamentalistischen Organisation Moral Majority, Jerry Falwell, die Ehrendoktorwürde verliehen. Das pikante Detail an der Zeremonie war, dass ausgerechnet McCain dem Fernsehprediger Falwell einst einen »teuflischen Einfluss« auf die Republikanische Partei bescheinigt hatte.

Christian Winners

Die christlichen Fundamentalisten sind die Hauptakteure der extremen Rechten in den USA. Im August 2005 forderte Pat Robertson von der Christian Coalition vor etwa einer Million Zuschauer die Ermordung von Venezuelas Präsidenten Hugo Chávez. Es waren Leute wie Robertson, die 2000 und 2004 als Wahlhelfer für George W. Bush über vier Millionen Anhänger der wahlpolitisch zuvor apathischen christlichen Rechten an die Wahlurnen brachten. Wenn liberale Republikaner wie John McCain bei den Evangelikalen ihre Aufwartung machen, müssen sie sich pathetisch zu konservativen Werten bekennen, um nicht als Rino, als Republican in name only, denunziert zu werden. Ein Schmähtitel in einem Land, in dem eine traditionelle Mehrheit von value voters existiert, zu der auch zahlreiche Angehörige der working poor und des Industrieproletariats zählen.

Der Einfluss der christlichen Rechten auf die Republikanische Partei dürfte auch in Zukunft größer sein als der der New Yorker Neocons, die jenseits akademischer und administrativer Zirkel nie über eine Massenbasis verfügten.

Ein »Ende der Neocons«, wie es zuweilen vorhergesagt wird, ist jedoch nicht zu erwarten. Die von den Rolling Stones spöttisch besungenen »Sweet Neocons« haben bislang noch jeden Nachruf überlebt. Möglich ist eine neuartige Allianz der Bellizisten aus den Think Tanks AEI und PNAC sowie Liberalen aus dem Lager der Clinton-Demokraten, die als humanitarian hawks auch Bushs war on terror unterstützt haben.

Die Friktionen im Lager der Neocons korrespondieren mit der Krise der Regierung Bush, die ihre Politik als idealistischen Waffengang präsentierte. Ihren Ruf als omnipotente Hintermänner verdanken die Neocons jedoch ihren Gegnern. Alleinige Macht über die Politik des Präsidenten hatten sie nie. Gerade ihr Hauptfeind in der Regierung Bushs, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, hat publizistische Angriffe stets überstanden, ein bekennender Neocon wie Paul Wolfowitz ist momentan nicht im Amt.

Die Überhöhung der Neocons zur Triebkraft der US-Außenpolitik basierte auf einer Verwechslung der politischen Rhetorik und der Realität, zwischen Idealismus und Interesse. Reality bites! Bemerkenswert aber ist, dass die verbliebenen Neocons, die einst scharfen Kritiker der Sozialtechnologie des New Deal, ihrer Ideologie des regime change kritiklos gegenüberstehen und nicht fragen, warum diese nach dem »Ende der Geschichte« statt demokratischer Triumphe barbarische Tribalismen gefördert hat.