Fassbinder auf Plastikstühlen

In Argentinien setzen Filmklubs dem europäischen Kino ein Denkmal und haben eine eigene Geschichte. jessica zeller hat zwei von ihnen besucht

Es ist fast so, als würde man gute Freunde besuchen. Man klingelt an der Wohnungstür »2E« im alten, etwas heruntergekommenen Haus in der Avenida Corrientes 4 940, Ecke Malabia. Dann schnarrt es in der Leitung, und schon öffnet sich die Tür. Normalerweise müsste man jetzt erst noch beim Pförtner vorsprechen, wer man ist, wohin man will und so weiter. Doch einen Pförtner gibt es hier ausnahmsweise nicht, angekündigt habe ich mich vorher telefonisch. Luis Colantonea kommt mir schon auf der Treppe entgegen und veranstaltet eine ausgedehnte Begrüßung. Die deutsche Journalistin, welche Ehre, Küsschen rechts, Küsschen links.

Der Mann mittleren Alters mit der Strickweste und der Baskenmütze scheint ein bisschen aufgeregt zu sein. Als wir gemeinsam die Wohnung betreten – die Schuhe darf man ruhig anlassen –, hat seine Frau Rosa de Angelis schon Wasser für den Mate-Tee aufgesetzt. Sie erzählt mir gleich ohne Pause von ihren deutschen Vorfahren aus einer Stadt im Schwäbischen, die nach dem Ersten Weltkrieg nach Südamerika auswanderten. Auf einem kleinen Tischchen liegen Facturas, die fettigen Süßstückchen, denen noch nicht einmal die einheimische Bevölkerung widerstehen kann.

Ein typisch argentinischer Spätnachmittag bei einem redseligen Ehepaar? Nicht ganz, denn bereits einige Einrichtungsgegenstände machen deutlich, dass wir uns nicht in einem gewöhnlichen Wohnzimmer befinden. Auf der einer Seite stehen aufgestapelt Dutzende von roten Plastikstühlen, der etwa 40 Quadratmeter große Raum ist großzügig frei geräumt, und am Ende sieht man eine weiße Leinwand, schätzungsweise drei mal zwei Meter groß. »Früher waren das hier zwei getrennte Zimmer, ein Aufenthaltsraum und ein Schlafzimmer. Vor ziemlich genau sechs Jahren haben wir dann beschlossen, die Zwischenwand einzureißen und unser Ehebett ins Zimmer am Ende des Flurs zu tragen. Jetzt befindet sich hier der Filmklub ›Eco‹. Unter der Woche sind wir höchstens hier, wenn wir was am Computer zu tun haben. Und am Wochenende wird hier eben zum Kino eingeladen«, sagt Luis Colantonea.

So einfach scheint das zu gehen, und so einfach habe ich die beiden auch gefunden. Unter der Ru­brik »Sonstiges« wird im Kulturprogramm der argentinischen Tageszeitung Pagina 12 neben dem offiziellen Filmprogramm auch auf die Veranstaltungen der Filmklubs in der Hauptstadt verwiesen. »Eco« ist einer von ihnen. Jeden Samstag und Sonntag wird hier ein Streifen gezeigt, der im Programm der Multiplexpaläste nicht auftaucht und auch keine aktuelle Premiere ist. Heute ist es das vietnamesische Melodram »Der Duft der grünen Papaya«. »Diesen Monat gibt es nur asiatisches Kino«, meint Rosa de Angelis ein wenig stolz und fügt hinzu: »Nicht immer so gefühlvoll und langatmig wie heute, auch ein japanischer Actionthriller ist geplant.«

Die Idee dazu sei relativ neu, denn eigentlich fühle man sich dem europäischen Film verpflichtet. Chabról oder Fellini sei das, was hier meistens gezeigt würde. »Vielleicht liegt es an der DVD. Früher, als wir noch auf 16-Millimeter-Kopien angewiesen waren, konnten wir oft nur zeigen, was uns die europäischen Kulturinstitute in Buenos Aires zur Verfügung gestellt haben. Jetzt sind wir freier und haben selbst viel Neues entdeckt. Rechtliche Probleme gibt es eigentlich nicht, denn wir sind wenige und in Argentinien wird das etwas lockerer gehandhabt«, sagt Colantonea. Das Ziel sei jedoch dasselbe geblieben: Leute einladen, Filme gucken und danach darüber diskutieren. »Cine de Debate«, im Spanischen gibt es sogar einen eigenen Begriff dafür.

Wenn es um Vorbilder geht, ist Eco nicht bescheiden: »Wir knüpfen an die Tradition in Frankreich der Nachkriegszeit an. Damals waren François Truffaut, Claude Chabról und Jean-Luc Godard noch sehr jung und keine berühmten Regisseure. Sie trafen sich im Quartier Latin, um Filme anzusehen, und danach redeten sie darüber, und meistens stritten sie sich auch. Jedenfalls gab es nie einen Konsens, nach dem Motto, das ist die Aussage des Films und Punkt. Diese Art von Diskussion wollten wir auch haben«, fasst Colantonea zusammen.

Tatsächlich ist es weniger die ästhetische und filmtheoretische Betrachtungsweise, die bei »Eco« im Vordergrund steht. Weder Luis Colantonea noch Rosa de Angelis haben Film studiert. Sie sind Filmliebhaber, und das wollen sie mit anderen teilen. War die Handlungsweise der Hauptdarsteller nachvollziehbar? Welche Szene fand wer besonders aussagekräftig und warum? War der Film politisch?

Das sind Fragen, über die sie gemeinsam mit den 20 Besuchern im Anschluss an den Film reden, diesmal im Kreis sitzend mit starkem Kaffee und Keksen. Diana ist da, eine 40jährige Historikerin, die jede Woche herkommt und diesmal auch ihre Mutter mitgebracht hat. Paula und Verónica, zwei Mädchen um die zwanzig, die gerne Regie studieren möchten, oder Matías, ein junger Mann, der einfach keine großen Kinos mag. Wäre man böswillig, könnte man sagen, dass hier einsame Argentinier einem Hobby frönen. Andererseits kann man nicht behaupten, dass es hier irgendwie elitär zuginge. Es wird zugehört, man geht aufeinander ein, und es ist keineswegs so, dass der Mann, der am meisten zu wissen glaubt, auch am meisten redet.

Etwas anders sieht es bei »Tea« aus, dem zweiten Filmklub, den ich besuche. Er befindet sich im angesagten Viertel Palermo Viejo, das in etwa mit dem Prenzlauer Berg in Berlin vergleichbar ist. »Tea« wurde 1988 gegründet und wird von Ernesto Flomenbaum und Pastora Campos geleitet, die hier auch ihr Atelier haben, wo sie Workshops zu allem anbieten, was mit Film zu tun hat. Natürlich kennen sie auch die Leute von »Eco« und haben sich, wie sollte es anders sein, vor Jahren mit ihnen zerstritten, als sie gemeinsam in der anarchistischen Bibliothek José Ingegnieros einen Filmklub betrieben haben. Ich überhöre die Tiraden und frage Flomenbaum, was denn das Besondere an »Tea« im Gegensatz zu »Eco« sei, obwohl ich zugeben muss, dass sich das eigentlich schon aus dem Programmfaltblatt und den zahlreichen Plakaten von Filmen von Alexander Kluge und Volker Schlöndorff an den Wänden erschließt.

Und richtig: Hier ist man fast ausschließlich dem deutschen Autorenkino der siebziger und achtziger Jahre verpflichtet und projiziert traditionsbewusst die 16-Millimeter-Rollen, die die Kinemathek des Goethe-Instituts Buenos Aires bereitwillig zur Verfügung stellt. »Die Dritte Generation« von Fassbinder, die heute auf dem Programm steht, ist dabei im Originalton bedauerlicherweise kaum zu verstehen. Ich bin dankbar für die spanischen Untertitel. Ob den Argentiniern die knappe Einführung von Flomenbaum zum Verständnis des bewaffneten Kampfs und der Kritik an den damaligen westdeutschen Verhältnissen genügt, scheint fraglich. Eine Debatte im Anschluss gibt es jedoch nicht, und die etwa 20 Zuschauer verlassen den Raum und gucken zumindest schlau und ein bisschen hochnäsig. Auch Flomenbaum hat anschließend noch einen Termin.

Um mehr über die Entstehungsgeschichte von Filmklubs in Argentinien zu erfahren, treffe ich mich an meinem vorletzten Tag vor meiner Rückreise nach Deutschland mit Fernando Peña, dem Leiter der Kinemathek des Museums für Lateinamerikanische Kunst (Malba), das auf private Initiative des Sammlers Eduardo F. Constanini vor fünf Jahren gebaut und gegründet wurde und sich heutzutage als Mittelpunkt von Kultur in Buenos Aires überhaupt versteht. Im Gespräch mit ihm wird deutlich, dass der Bezug auf Europa keineswegs erst seit der Nachkriegszeit existiert.

Bereits 1930 begann eine Gruppe Intellektueller um den Filmregisseur Luis Saslavsky und die Schriftsteller Victoria Ocampo und Jorge Luis Borges, das Werk Sergej Eisensteins in Argentinien bekannt zu machen. Es entstanden öffentliche Kinos mit anspruchsvollem Programm, wie das Lorca, das es noch heute gibt, und gleichzeitig Filmklubs als ihr informelles und teilweise auch subversives Gegenbild. Ab den fünfziger Jahren war der Filmklub »Núcleo«, der noch heute besteht, ein wichtiger Treffpunkt. Sein Gründer Salvador Sammaritano, mittlerweile weit über 80 Jahre alt, war mit vielen Größen des europäischen Films per du und in engem Kontakt.

Und auch während der vergangenen Militärdiktatur spielte »Núcleo« eine zentrale Rolle: »Damals waren viele Filme verboten, und man konnte sie praktisch nur dort sehen. Denn in dem betreffenden Paragraphen stand nichts über die nichtkommerziellen Kinos. ›Núcleo‹ war jedoch der einzige Filmklub, der diese Rechtslücke ausnutzte und kritische Filme zeigte. Angekündigt wurden sie jedoch unter einem falschen Titel, nachdem die Polizei einmal eine Kopie beschlagnahmt hatte«, erklärt Peña.

Auf die Frage, ob Orte wie »Eco« und »Tea« nicht mehr dem sozialen Austausch und einer gewissen Nostalgie als aktuellen Entwicklungen verpflichtet seien, lächelt er. Klar sei, dass es heute nur noch eine Hand voll derartiger Filmklubs gebe. Die meisten unabhängigen Kinos hätten sich in Kulturzentren verlagert, auch gebe es in Argentinien mitt­lerweile mehrere Filmfestivals zu verschiedenen Themen, bei denen Cineasten auf ihre Kosten kämen. Und nicht zuletzt die Wirtschaftskrise 2001 habe zu zahlreichen filmischen Verarbeitungen durch argentinische Regisseure auf hohem Niveau geführt. Man müsse nicht immer über den Atlantik schauen. All das könne ich, so sein Fazit, doch auch mal im Kinosaal des Malba verfolgen, sagt er und führt mich in einen schicken Saal mit bequemen Samtsesseln. »Mal schauen«, sage ich zum Abschied und verspreche, bald wiederzukommen.