Vom Gewölk verschluckt

Im Werk des vor zehn Jahren verstorbenen Schriftstellers Heiner Müller findet man Pathos, Geschichtspessimismus und viel Überflüssiges. von jörg sundermeier

Wie es bleibt, ist es nicht«, hat Heiner Müller in den siebziger Jahren einen Kommentar zu Thomas Braschs »Kargo« überschrieben, und dieser Satz ist gleich zweimal bezeichnend für das Müller’sche Denken. Zum einen auf der formalen Ebene, mit der am Kabarett geschulten Verdrehung einer Phrase verblüfft der Autor seine Leserinnen und Leser. Auf der Be­deu­tungs­ebene steht der Satz hingegen für Müllers Geschichtspessimismus, sowohl für die Wirkung von Geschichte als für die Mängel in ihrer Überlieferung.

Die »Übersetzungsfehler«, die sich mit den Jahren einschleichen, betreffen gerade auch den Schriftsteller selbst. Der Sozialist Müller ist nicht mehr gefragt, seine Stücke werden zurzeit eher selten auf­geführt, oft dann aber mit vermeintlich »aktualisierenden« Einschüben und Regie-Einfällen, die den Texten eine Banalität verleihen, die ihnen nicht ursprünglich innewohnt.

Als vor einigen Tagen aus Anlass seines zehnten Todestages das Buch »Der Tod ist ein Irrtum« in der Akademie der Künste in Berlin vorgestellt wurde, vermisste ihn die Berliner Zeitung aufs schmerzlichste. Anhänger Müllers erzählten dort Anekdotisches, das, worum es bei Müller politisch-philosophisch ging, wurde hingegen nicht angesprochen.

Es irritiert doch arg, dass der Schriftsteller zwar mit einer Werkausgabe geehrt wird, andererseits aber der Suhrkamp Verlag eine öffentliche Aufmerksamkeit, wie sie Todestage mit sich bringen, nicht besser zu nutzen verstand.

Dass die Rotbuch-Werkausgabe, die sich an dem Vorbild der Brechtschen »Versuche« orientiert, zugunsten der neuen Suhrkamp-Werkausgabe vom Markt genommen werden musste, zeigt, was heutzutage fehlt. Es wird an den beiden Bänden, die 2005 im Rahmen dieser Werkausgabe erschienen, auf eindringliche Weise klar. Zwar bringt die von Frank Hörnigk betreute Ausgabe Material in Hülle und Fülle ans Tageslicht. Da aber die Texte in dieser zurzeit einzigen lieferbaren Ausgabe in eine Chronologie gesperrt und einem Genre zugeordnet sind, geht ihr Materialcharakter verloren.

Das macht sie zu »Klassikern«, denen ein Wert für die Gegenwart fehlt. Das Bild, das Heiner Müller in den letzten Jahren in öffentlicher Funktion abgab – als Präsident der Ost-Akademie und Intendant des Berliner Ensembles sowie als Talkshowgast –, hat inzwischen vollends den Autor Müller verdrängt.

Entsprechend wenig wird sein Werk heute noch gelesen. Auskunft über sich selbst gibt er in Texten, die soeben in der Werkausgabe neu erschienen sind. »Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie« hieß der Großtext bei seinem Erscheinen im Jahr 1992, nun liegt er merkwürdiger­weise unter dem Titel »Eine Autobiographie« vor. Dabei ist ihm nichts Wesentliches beigefügt worden, der Band folgt der Neuausgabe von 1994, die erschien, nachdem bekannt geworden, dass Müller als Informeller Mitarbeiter (IM) bei der Staatssicherheit der DDR geführt worden war. Es werden lediglich Stücke aus den wenigen erhaltenen Manuskriptseiten dokumentiert, die den »exemplarischen Nach­weis eines kontinuierlich sich verdichtenden, künstlerischen Schreibprozesses« erbringen. Zudem ist der Entwurf eines Vorworts erhalten, der nochmals einen Eindruck von der Distanz des Autors zu diesem Text vermittelt. Müller selbst nannte das Buch etwas, das er »in der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu Literatur machen konnte«.

Im Nachlass erhalten sind einige Dokumente, die belegen, dass er das Buch ganz stoppen wollte. Die Autobiografie zeigt seine Schwächen als Plauderer. Zugleich aber gibt sie einen interessanten Blick auf seine Stücke frei. Müller etwa beäugte skeptisch, auf welche Weise seine Stücke im Westen inszeniert worden sind, er merkte, dass seinen Leserinnen und Lesern im Westen die Erfahrung bzw. die Lektüre fehlte, die die Kritik seiner Stücke verständlich machen. Anspielungen auf Diskrepanzen zwischen Parteilinie und persönlichen Bedürfnissen wurden etwa in heterosexuelle Beziehungsprobleme übersetzt.

»Krieg ohne Schlacht« wurde seinerzeit von aktuellen Ereignissen verdeckt, den Blick auf den Text trübte die Affäre um Müllers angebliche IM-Tätigkeit. Ein Dokumententeil, der in der Neuausgabe zu seiner Entlastung dienen sollte und der auch in diesem Werkausgabenband enthalten ist, überlagert seitdem den Haupttext und degradiert ihn zu einem Vorspiel einer Stasi-Versteck-Kolportage.

In dem Band »Schriften«, der natur­gemäß viel Überflüssiges enthält, finden sich auch Müllers berühmte Gegenüberstellung der Brecht-Figuren Fatzer und Keuner, seine Kleistpreisrede oder seine Texte, in denen er seine Gespräche mit Stasi-Offizieren verteidigt. Sie dürften zum Besten gehören, was der Schriftsteller hinterlassen hat. Er kämpft in diesen Texten für den Sozialismus, aber nicht mehr für die DDR, er redet über Kolonisation und Verdrängung, über die »Volksdroge Antikommunismus« und für ein Theater, dass durch den Kapitalismus bedroht ist.

Dass seine Texte dabei zeigen, dass er kaum einen Begriff vom Antisemitismus oder vom Feminismus hatte, war zu erwarten, dennoch überraschen diese, oft mit schneller Hand verfassten Texte durch ihre Hellsichtigkeit in ästhetischen Fragen. Sie sind, nimmt man sie als Bausteine für eine linke Ästhetik der Gegenwart, noch immer sehr hilfreiche Maßgaben, da sie vielleicht nicht immer die richtigen Antworten geben, oft aber die richtigen Fragen stellen.

Die Aufsätze und Rezensionen aus den fünfziger Jahren hingegen sind noch sehr geprägt vom Bitterfelder Weg und von sozialistischer Aufbauromantik. Da kann es schon einmal vorkommen, dass Müller einen Paul Celan auf den Mähdrescher setzen will, um ihm die »lyrischen Séancen mit aufgeschminkten Mumien« auszutreiben. Günter Grass, dessen hohle aufrührerische Geste Müller bereits 1956 auffiel, wird mit sozialistischem Pathos als einer dieser »Leute« entlarvt, die »bei elektrischer Beleuchtung« schreiben, »im Ohr den Schall von Flugzeugen, die schneller sind als der Schall; aber in ihren Versen ist Stromsperre, werden die Flugzeuge vom Gewölk verschluckt«. Anna Seghers oder Friedrich Wolf werden dagegen brav besprochen.

Doch selbst in diesen frühen, unsicheren Texten blitzte schon die Lust hervor, mit der Müller später auf die Widersprüche in der realsozialistischen Gesellschaft hinwies, entsprechende Reaktionen und Schreibverbote waren bereits in dieser Zeit die Folge.

Diese Schriften also präsentieren jenen Autor, den man heute vermisst, da seine Worte einen Gebrauchswert haben, sie wurden hervorgebracht durch nützliche Arbeit.

Dieser Heiner Müller aber fehlt. Zum Todes­tag brachte Suhrkamp statt eines Sammelbandes lieber das umfangreiche Buch »Der Tod ist ein Irrtum«, das von Brigitte Maria Mayer, Müllers Lebensgefährtin in den letzten Jahren vor seinem Tod, herausgegeben wurde. In ihm finden sich, neben ein paar Notaten und Gedichtentwürfen, vor allem private Polaroids des Paars, intime, nicht selten peinlich private Bilder, sie zeigen den verschlafenen Müller oder die nackte Mayer, zeigen ihr Kind oder den Autor von Weltruf an seinem Todestag auf dem Sterbebett. Ein schönes Buch, zweifelsohne. Dennoch hilft der Band eher dabei, den Autor Müller verschwinden zu lassen.

Heiner Müller: Eine Autobiographie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2005, 522 Seiten, 27,80 Euro

Drslb.: Schriften. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/ Main 2005, 718 Seiten, 27,80 Euro

Drslb. und Brigitte Maria Mayer: Der Tod ist ein Irrtum. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2005, 164 Seiten, 58 Euro