Psychotherapie vor der Kamera

Nach »Der Untergang« lässt Oliver Hirschbiegel in seinem neuen Film »Ein ganz gewöhnlicher Jude« Ben Becker endlos über das Elend der Juden lamentieren. von thomas blum

Emanuel Goldfarb, dessen Eltern die Shoah überlebt haben, soll vor einer Schulklasse sprechen. In einem Brief eines Gymnasiallehrers, in welchem er als »jüdischer Mitbürger« tituliert wird, wird er dazu eingeladen, den Jugendlichen in einer Unterrichtsstunde das Judentum nahe zu bringen.

Nicht anders als ein exotisches Tier im Zoo, als Anschauungsobjekt, als nach wie vor »Artfremder«, als »echter Jude« zum Anfassen sozusagen, soll er dort ausgestellt werden, so vermutet er. Um hernach von den Schülern wie immer, wie er ahnt, vorwurfsvoll danach befragt zu werden, was er von der israelischen Politik halte.

Immer noch, weiß er, wird er hierzulande als Jude ausgegrenzt. In dem Brief wird er von einem philosemitischen »Gutmenschen«, wie er ihn nennt, angeschleimt. Der Journalist Goldfarb beantwortet den Brief nicht.

Stattdessen, empört über die Frechheit und Gedankenlosigkeit des Lehrers, ergreift er sein Diktiergerät und spricht sich in einem langen Monolog, einem anderthalb Stunden währenden Selbstgespräch, seinen über Jahre angestauten Unmut von der Seele: Nicht mehr »Jude in Deutschland«, »Angehöriger der jüdischen Glaubensgemeinschaft« oder »jüdischer Mitbürger« wolle er sein. Nicht mehr »toleriert« wolle er werden, nicht mehr geduldet und ertragen.

Ein »ganz gewöhnlicher Deutscher« habe er ­immer sein wollen, womit er gescheitert sei, wie er nun wisse. Genau wie sein einst aus dem eng­lischen Exil zurückkehrender Vater, der wieder nach Deutschland kam, weil es in England kein Wort für »Gemütlichkeit« gegeben habe.

Und: Ja, auch er selbst habe wie Martin Walser die Schnauze gestrichen voll von der Last der nicht enden wollenden Geschichte, von den Holocaustdokumentationen, die wie Reklamespots fortwährend im Fernsehen zu sehen seien. »Zu viel Geschichte, zu viel Erinnerung.«

Der Schauspielerdarsteller Ben Becker, der Emanuel Goldfarb verkörpert, ist ein Mann, der – nach allem, was wir wissen – im Fernsehen lebt, der dort von Talkshow zu Talkshow reist, breitbeinig dahockt und dem man nur die geringste Beachtung schenken muss, damit er sich bereitwillig aufplustert und sehr laut von sich redet, immerfort laut, und fortwährend von sich. Darin hat er großes Talent (Becker: »Ich kann nur sagen ... wer sich gerne anderthalb Stunden Ben Becker anschaut, der sollte da reingehen.«). Und genau dies tut er auch in dieser Rolle, in diesem Film, obwohl der Begriff »Film« an dieser Stelle bei eingehender Betrachtung nur bedingt angebracht zu sein scheint, denn um einen Film handelt es sich hierbei lediglich unter technischem Aspekt, d.h. man kann das Erzeugnis, sofern man guten Willens ist, im Kino abspielen.

Es wirkt nach einer Weile auf einen, als habe der Regisseur zum Hauptdarsteller gesagt: »Hier hast du deinen Text, den musst du aufgeregt und laut aufsagen, den kannst du auch hier vom Teleprompter ablesen. Setz dich hin, steh auf, geh’ in der Wohnung hin und her und sprich dekorativ ins Diktaphon. Wir halten dann einfach die Kamera drauf.« Es handelt sich hierbei um den alten Irrglauben deutscher Filmemacher, dass Dramatik allein dadurch entstünde, dass der Protagonist laut ist, gepeinigt und gramvoll in die Kamera guckt und sich bewegt. Die Kamera bleibt fast durchweg starr, einfallslos, zeigt in einem fort die immergleiche Physiognomie des Schauspielers, und die Reglosigkeit der Kamera überträgt sich erfolgreich auf den Zuschauer, der mit Fortdauer des Films glaubt, sich mehr und mehr in einen Zementsack zu verwandeln. In seiner Form ist das urtümlichstes, stählernes, deutsches Fernsehkammerspiel der späten siebziger Jahre. Nur schwarzweiß müsste der Film jetzt noch sein, um auf noch trostlosere Art noch unbekömmlicher zu sein.

In der Rolle des Emanuel Goldfarb schimpft und zetert der Hauptdarsteller ins Diktaphon, rauft sich die Haare, steht auf, setzt sich wieder hin, schnauft, schreibt mit der Schreibmaschine, steht wieder auf, starrt auf seine Bücherregale, wo ein Por­trät von Hannah Arendt steht und die vollgepfropft sind mit Bänden über jüdische Tradition, Religion, Philosophie und Geschichte, im Bildhintergrund ein siebenarmiger Leuchter, alles ist hier balkendick ausgestattet mit haufenweise Judentum.

Goldfarb alias Becker redet, redet, redet, legt auch mal sein Diktaphon ab, um eine selbstverliebte Pose einzunehmen, in welcher er mit reichlich gedankenverlorenem Blick verharrt, um möglichst dekorativ weiter in das Aufnahmegerät hineinzusprechen, zerreißt eine Postkarte, wirft sie in den Papierkorb, geht wieder zum Tisch, setzt sich wieder hin, fuchtelt mit dem Gerät, legt es wieder ab, starrt es an, nimmt es wieder in die Hand, steht wieder auf, klaubt die Einzelteile der Postkarte wieder zusammen, wandert durch den Flur. Dann nippt er hie und da vom Weinglas, geht in seiner stilsicher eingerichteten Intellektuellenwohnung hin und her, gibt sich erregt und wackelt mit dem Kopf. Hernach trinkt er Espresso, setzt sich aufs Sofa, setzt sich eine Kippa auf den Kopf, zurrt sich einen Gebetsriemen um den Arm, stellt sich vor den Spiegel, starrt ausdrucksvoll ins Leere, schenkt sich Cognac ein, geht auch mal auf den Balkon, um auch dort aufgeregt und vermeintlich dramatisch abermals ins Leere zu deklamieren. Von der wieder zusammengesetzten Postkarte fehlt ein Stück. »Wenn man sich seine eigene Geschichte zusammensetzen will, fehlt immer ein Stück!« Text-Bild-Symbolik! Bedeutungsschwere! Leiden an der jüdischen Tradition, am Judentum! Jüdischer Selbsthass!

Jedenfalls redet Ben Becker immerzu gespreizt und sehr laut, ohne jede Nuance, ohne die Stimme merklich zu heben oder zu senken. Es ist ungefähr so, als habe man sich für eine Filmbiographie über das Leben Mahatma Ghandis für die Hauptrolle Dieter Bohlen ausgesucht. Es ist kaum zu ertragen.

In seinem letzten Film, der geschichtsrevisionistischen Hitler-Trivialschmonzette »Der Untergang« (O-Ton Bruno »Hitler« Ganz: »Die Spackhetti warr’n kutt!«), hat uns Oliver Hirschbiegel, der Regisseur dieses quälenden, bleischweren Machwerks, das er nun gedreht hat, gezeigt, wie sehr die Nazis und ihr sich mit Sorgenfalten auf der Stirn mühsam einherschleppender, sterbenskranker Führer im Zweiten Weltkrieg gelitten haben und wie sehr sie unser Mitleid verdient haben. In seinem neuen Low-Budget-Film zeigt er uns an der exemplarischen Figur des ­Intellektuellen Emanuel Goldfarb, wie sehr die deutschen Juden leiden unter ihrer angeblichen fixen Idee, nämlich der beständigen zwanghaften Thematisierung des Holocaust, wie stark auch ihr Bedürfnis nach dem ist, was heute ­»unverkrampfter Umgang mit der Geschichte« genannt wird und früher »Geschichtsvergessenheit« hieß, wie sehr auch sie die Walsersche Sehnsucht nach »Normalisierung« teilen und wie fürchterlich sie im Deutschland der Gegenwart unter dem krankhaften Philosemitismus der nicht jüdischen Deutschen und ihrer »ekelhaften Einfühlsamkeit« zu leiden haben. Man mag sich gar nicht vorstellen, welche Geschmacklosigkeiten künftig noch auf uns zukommen werden. Der Regisseur jedenfalls muss damit rechnen, früher oder später das Bundesverdienstkreuz zu bekommen, wenn er so weitermacht.

»Ein ganz gewöhnlicher Jude«, Deutschland 2005, 90 Minuten, Darsteller: Ben Becker, Buch: Charles ­Lewinsky, Regie: Oliver Hirschbiegel, Start: 19. Januar