Priester der Herrenrasse

Eine neue Biografie Alfred Rosenbergs widerspricht der verbreiteten These von der untergeordneten Rolle des NS-Theoretikers in der Vernichtungsmaschinerie. von thomas schmidinger

Zehn Jahre sind ins Land gegangen /Seitdem der Alfred angefangen / Mit seinem straffen Regiment / Als Weltanschauungsdirigent.« So lyrisch beschrieben am 31. Dezember 1943 bei einer Silvesterfeier der Dienststelle des NS-Ideologie- und Überwachungsbeauftragten Alfred Rosenberg in der Berliner Margaretenstraße 17 die Wachleute seines Amtes die Arbeit ihres Chefs. Tatsächlich spielte Alfred Rosenberg nicht nur in der Frühphase der NSDAP in München eine wichtige Rolle bei der ideologischen Ausgestaltung der Partei und insbesondere ihres Antisemitismus und ihres Antibolschewismus. Ernst Piper beschreibt in seiner umfangreichen Biografie des NS-Cheftheoretikers auch seine Rolle nach der »Machtübernahme« der NSDAP 1933. Er widerspricht dabei einer Sichtweise, die Rosenberg selbst im Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg zu etablieren versucht hatte, um sich vor dem Schuldspruch zu retten.

Rosenberg hatte vor Gericht versucht, seine Funktion herunterzuspielen, und behauptet, dass er auf Distanz zur Politik Hitlers gegangen sei. Aus Meinungsverschiedenheiten im Hinblick auf die strategisch günstige Behandlung der nichtrussischen Bevölkerungsgruppen, insbesondere der Ukrainer, wie er sie mit dem Reichskommissar der Ukraine, Erich Koch, ausgefochten hatte, wollte er einen Dissens zu Hitler konstruieren. Die Frage der Behandlung der Ukrainer war jedoch eben nur eine strategische Differenz zwischen dem Deutschbalten Rosenberg, der nicht nur Russisch sprach, sondern auch relativ gut über die antirussischen Nationalbewegungen der nichtrussischen Sowjetbevölkerung Bescheid wusste, und dem brachialeren Koch, der keinen Unterschied zwischen Russen und Ukrainern machen wollte. Während Rosenberg die antibolschewistischen Nationalisten der Ukraine und des Baltikums ebenso gegen die Sowjetunion nutzen wollte wie die russisch-orthodoxe Exilkirche, hatte Koch kein Verständnis für solche Differenzierungen. Ukrainischen Nationalisten, die ihn mit den traditionellen Begrüßungsgaben Salz und Brot in »seinem« Reichskommissariat empfingen, schlug er mit einer Reitpeitsche das Gastgeschenk aus der Hand.

Rosenberg hingegen versuchte, genau auf jene ukrainischen Nationalisten zu bauen, um mit ihnen gegen das verhasste Russland in den Krieg zu ziehen. Letztlich waren sich jedoch beide in der deutschen Vorherrschaft ebenso einig wie in ihrem Antisemitismus.

Ernst Piper weist nach, dass Rosenberg mehr wusste, als er in Nürnberg zugeben wollte. Der ideologische Vordenker der Vernichtung war direkter an dieser beteiligt, als er es nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft wissen wollte. Auf einem Presseempfang nach seiner Ernennung zum Minister für die besetzten Ostgebiete erklärte er: »Zugleich ist dieser Osten berufen, eine Frage zu lösen, die den Völkern gestellt ist: die Judenfrage. Im Osten leben noch etwa sechs Millionen Juden, und diese Frage kann nur gelöst werden in einer biologischen Ausmerzung des gesamten Judentums in Europa.«

Rosenbergs Versuch, sich als harmlosen Theoretiker darzustellen, funktionierte in Nürnberg nicht. Der US-amerikanische Hauptankläger Robert Jackson erklärte am 26. Juli 1946: »Es war Rosenberg, der geistige Priester der Herrenrasse, der die Lehre des Hasses schuf, die den Anstoß zur Vernichtung des Judentums gab, und der seine gottlosen Theorien gegen die besetzten Ostgebiete in die Tat umsetzte. Seine verschwommene Philosophie fügte zur umfangreichen Liste der Gräueltaten der Nazis noch die Langeweile hinzu.«

Am 1. Oktober 1946 wurde Rosenberg von dem Nürnberger Militärgerichtshof zum Tode verurteilt und am 16. Oktober gemeinsam mit den anderen Verurteilten hingerichtet.

Ernst Piper zeichnet in seiner Biografie das Leben des 1893 in Reval, dem heutigen Tallinn, geborenen Rosenberg von seiner Jugend im Baltikum bis zur Auswanderung nach München und seiner Karriere zum Chefideologen der NSDAP nach. Dabei sind insbesondere auch die Passagen über die Frühzeit der NSDAP in München äußerst lesenswert. Die Richtungskämpfe einzelner innerparteilicher Rackets, die während Hitlers Haft in der Prominentenhaftanstalt Landsberg dermaßen eskalierten, dass es für Rosenberg – den Hitler beauftragt hatte, »die Bewegung zu führen« – unmöglich wurde, die formal illegale Partei zu führen, wurden nur selten in einer Biografie eines NS-Prominenten so detailliert geschildert. Und Rosenberg konnte sich innerparteilich behaupten. Während der »nationale Sozialist« Otto Strasser bereits 1930 die NSDAP verließ, sein Bruder Gregor Strasser sich 1933 aus der ­NSDAP zurückzog, dieser und SA-Chef Röhm im Juli 1934 im Auftrag Hitlers von der rivalisierenden SS ermordet wurden und eine Reihe anderer prominenter Nationalsozialisten der ersten Stunde sich mit niedrigeren Funktionen begnügen mussten, konnte sich Rosenberg immerhin bis zur militärischen Niederlage Deutschlands 1945 im Zentrum der nationalsozialistischen Macht halten.

Schließlich übernahm er in seiner Funktion als NS-Weltanschauungsbeauftragter auch die Leitung des Außenpolitischen Amts der NSDAP sowie nach dem Überfall auf die Sowjetunion das Amt des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete.

Piper schildert dabei nicht nur die Wirkung von Rosenbergs Schriften, allen vo­ran des »Mythus des 20. Jahrhunderts«, und seinen Einfluss auf die Systematisierung des nationalsozialistischen »Antisemitismus der Vernunft«, sondern auch die verschiedenen innerparteilichen Machtkämpfe, die Rosenberg – dessen Talent mehr im ideologischen als im real­po­li­ti­schen Bereich lag – nicht immer für sich entscheiden konnte. Immerhin war er jedoch einer der wenigen frühen Funk­tio­näre der NSDAP, die auch noch nach der »Machtergreifung« 1933 eine wichtige Rolle spielten. Dass er dabei nicht nur mit seinen Schriften und parteiinternen Schulungen den ideologischen Boden für die Vernichtung bereitete, sondern auch selbst als Ostminister an ihrer Planung beteiligt war, konnte ihm in Nürnberg nachgewiesen werden. Pipers aus­ge­zeich­net recherchiertem und gut lesbaren Werk gelingt dieser Nachweis aufs Neue.

Ernst Piper: Alfred Rosenberg. Hitlers Chef­ideologe. Karl Blessing Verlag, München 2005. 830 S., 26 Euro