Mona Lisa aus Südchina

Im südchinesischen Perlflussdelta konkurrieren Globalisierung und Lokalkultur miteinander. Die zweite Triennale in Guangzhou versucht, den Transformationsprozess abzubilden und zu steuern. von justus krüger

Die Wucht der regionalen Transformation findet ihren Ausdruck in einfachen Bildern. Im Treppenhaus des Guangzhou-Museums im Süden Chinas liegt eine steinerne Schildkröte auf dem Rücken. Das Reptil ist Symbol für Kon­tinuität und Langsamkeit. Jetzt liegt das Tier hilflos auf dem Rücken. Noch direkter wird die historische Umwälzung in der Dokumentation über das Dorf Dafen abgebildet. Von der schnell wachsenden Millionenstadt Shen­zhen eingeschlossen, haben die Dorfbewohner eine kunsthandwerkliche Industrie entwickelt, die das Distinktionsbedürfnis der städtischen Mittelschicht bedient. Kopien von Van Goghs Sonnenblumen und Leonardos Mona Lisa werden hier massenhaft hergestellt. Als Ausweis kosmopolitischen Geschmacks schmücken sie die Wohnungen der Mittelschicht in der benachbarten Stadt.

»Beyond: An extraordinairy space for experimentation and modernization« – der etwas sperrige Titel der Triennale passt, denn in der chinesischen Südprovinz gehört Grenzüberschreitung zum Alltag. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land, Innen und Außen, global und lokal verwischen sich.

»Guangzhou ist ein Teil von China. Aber ein sehr eigenartiger Teil«, sagt Hou Hanru, einer der Kuratoren der Triennale. Und gerade um die Identifikation dieser regionalen Differenz geht es ihm und seinem Mitkurator, dem Schweizer Hans Ulrich Obrist. Einer homo­genisierenden Globalisierung wollen die beiden mit der Triennale den Begriff der mondialité entgegensetzen, einer Globalisierung, die Differenzen anerkennt. Ironischerweise entdecken die beiden Kuratoren eine solche Eigenart ausgerechnet in dem sich rasant entwickeln­den Ballungsraum zwischen Hongkong, Shen­zhen und Guangzhou, über den die Globalisierung in den letzten Jahren hinweggefegt ist wie über kaum eine zweite Region auf der Welt.

Millionen von Wanderarbeitern strömen jedes Jahr in die Gegend und finden sich in einem prekären Transitzustand: zwischen den Chancen des Aufstiegs, den Gefahren der Lohn­sklaverei und der Enge des Landlebens, von dem sie sich eben erst befreit haben. Subunternehmer von multinationalen Firmen dominieren die Landschaft. Schuhe und Markenkleidung werden hier hergestellt. Die Industriezentren bringen eine Art Frontier-Gesellschaft hervor. Improvisierte Dörfer unter Autobahnviadukten, Arbeiterwohnheime und Fabriken verbinden sich zu wuchernden Proto-Städten und ziehen die bäuerlichen Gemeinden in ihren Orbit, gerade wie es die schnell ausgreifenden Vororte der beiden kan­tonesischen Metropolen Guangzhou und Shenzhen tun. Umzingelt von der Stadt, deren Immobilienpreise in den Himmel schießen, geraten die eingekreisten Dörfer in einen chaotischen Umwälzungsprozess, der erst mit ihrer vollständigen Assimilation in die Großstadt enden wird.

Die Triennale hat es sich zum Ziel gesetzt, dies nicht nur abzubilden, sondern auch ein­zugreifen in diesen Prozess. Dazu diente vor allem eine Serie von so genannten

­D-Labs oder Perlflussdelta-Laboren. Künstler, Architekten und Stadtplaner waren aufgefordert, sich über die Zukunft des Perlflussdeltas den Kopf zu zerbrechen und, wenn möglich, selbst zur Tat zu schreiten. Verwirklicht wurde bisher eher wenig. Aber angesichts der überaus flüchtigen Zu­stände im Perlflussdelta dürften immerhin die Materialsammlungen, die aus diesem Engagement hervorgegangen sind, von beträchtlichem dokumentarischen Wert sein.

Auch der Stararchitekt und Theoretiker Rem Kolhaas ist seit Jahren im Perlflussdelta tätig. An der Triennale beteiligte er sich mit einem Bauprojekt: Kolhaas integrierte eine Zweigstelle des Guangzhou-Museums in einen gut bewachten Oberklasse-Apartmentkomplex. Ob man es bei seinen Aktionen mit einem Produkt der Vorurteils- oder Prinzipien­losigkeit zu tun hat, ist nicht immer leicht zu entscheiden. Immerhin wirft die pro­vozierende Geste ein Licht auf ein Vorgehen, das in der Region nicht unüblich ist. In der bestenfalls rudimentären Förderlandschaft Chinas besteht eine der wenigen Möglichkeiten der Geld- und Raumbeschaffung in Kooperationsprojekten zwischen Galerien, Museen und Immobi­lienfirmen.

Deren Bauprojekte sind dabei häufig selbst Zeichen eben der Grenzüberschreitungen, von denen die Triennale handelt.

Stets auf der Suche nach neuen Distink­tionsmerkmalen zieht die neue Wohlstandsschicht auch die Kunst in ihren Zeichenschatz. So erkaufte sich im vergangenen Jahr eine Shenzhener Immobilienfirma durch ihre finanzielle Unterstützung für eine Picasso-Ausstellung das Privileg, mit einer exklusiven Schau in ihren Modellwohnungen die potenziellen Immobilienkäufer zu beeindrucken, und zwar bevor die Bilder ihren Weg in die Öffentlichkeit fanden. Aber auch an weniger etablierter Kunst wächst das Interesse. Hier tut sich ein Spielfeld für die experimentellen Künstler der Region auf.

Zhen Guogu hat mit dieser Art von Mäze­natentum seine Erfahrungen gesammelt. Er ist einer der fünf Big Tail Elephants, einer Künstlergruppe, die seit den neunziger Jahren im Zentrum künstlerischer Aktivität in der kantonesischen Provinzhauptstadt steht. Eine südchinesische Immobilienfirma sponserte die Gruppe auf der Biennale in Venedig 2003. Ihre Aktion »Maze of Reality« wur­de per Videoschaltung in den Shenzhener East Coast Residential Complex übertragen. In ihrem Beitrag zur Trien­nale in Guangzhou streuen sie Brotkrumen in die Irrgänge eines Labyrinths. Ein pes­simistischer Kommentar zum Mäzenatentum.

Gerade dort, wo die Stadt am wenigsten Charakter hat, gewinnt ihr Chen Shaoxiong die Spuren der persönlichen Erfahrung, des Unverwechselbaren ab. In seiner »Stadt aus Tinte« verarbeitet er Schnapp­schüsse von überfüllten Einkaufstraßen, Bahnsteigen und Straßenkreuzungen zu Tuschemalereien, die er wiede­rum zu einer Videoinstallation montiert. Den nicht bemerkenswerten Szenen entlockt er damit ein verblüffendes Maß von Intimität inmitten der Anonymität.

Eine ähnliche Wirkung entfaltet eine Serie von Selbstporträts. Zhou Hao und Ji Jianghong haben eine Gruppe von Wanderarbeitern mit Foto- und Videokameras ausgestattet. Das Ergebnis – mal Schnappschüsse, mal sorgfältig Inszeniertes und eine Reihe von Interviews – ist schon deshalb erfreulich, weil es einer systematisch mundtot gemachten Bevölkerungsgruppe zu öffentlichem Ausdruck verhilft.

Wenn Chen, Hao und Ji eine Spur der Identität durch das Labyrinth legen, verwischt Lin Yilin sie gleich wieder: In seinem »Missing Dolly« schaut ein im Stil der Bambi-Ästhetik gestalte­tes Lamm, das soeben vom Berghang abrutscht, zu einem Foto des Klon­schafs Dolly auf. Beide, das Lamm und Dolly, beziehen sich auf einen in Guangzhou beliebten Ausflugsort – die Fünf-Lämmer-Statue, ihrerseits ein Denkmal für eine Volkssage, der Guangzhou seinen Beinamen als »Stadt der Lämmer« verdankt.

Dabei bleibt es in der Schwebe, ob Guangzhous Identität verschwindet oder aufgehoben wird. Wo mittelchinesische Wanderarbeiter Nike-Schuhe produzieren und kantonesische Dorfbewohner von ihren Mona-Lisa-Reproduktionen leben, verwischen sich die Linien zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Es ist das Verdienst der Triennale, diese Grenzüberschreitungen ins Museum geholt zu haben.