Die Debatte nutzen!

Die neu enstandene Kapitalismusdebatte eröffnet der Linken die Chance, auf eine reale Veränderung der Zustände zu drängen. von uwe hiksch

Die Linke ist seit vielen Jahren in der Defensive. Linke reformorientierte oder antikapitalistische Positionen sind aus der öffentlichen Debatte fast vollständig verschwunden. In dieser Situation hat Franz Müntefering eine Diskussion eröffnet, die für viele überraschend kam. Plötzlich führt die SPD, strategisch sehr geschickt, eine Debatte über einige wenige Aspekte der Auswirkungen des entwickelten Kapitalismus.

Müntefering hat in sehr einprägsamen Sätzen eine Kapitalismusdebatte begonnen, die in ihrer Anlage folgenlos bleiben soll. Er hat durch die Unterscheidung zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus bewusst an die Ideologie der angeblich »goldenen sechziger und siebziger Jahre« des rheinischen Kapitalismus angeknüpft, ohne darauf hinzuweisen, dass es diese Phase so nie gegeben hat.

Es geht den Strateginnen und Strategen in der SPD nicht um eine Neuorientierung ihrer Politik. Die Debatte ist ein Versuch, die desorientierten Stammwählerinnen und Stammwähler der SPD zurückzugewinnen. Nach den Wahlen in Nordrhein-Westfalen dürfte diese Debatte in der SPD wieder beendet werden.

In ihrer Substanz handelt es sich nicht um eine Diskussion über eine notwendige Veränderung der rot-grünen Regierungspolitik. Vielmehr wird die Debatte mit einer Verteidigung der unsozialen Politik verbunden. Es geht der Führung der SPD nicht darum, Veränderungen in der Militarisierung der Außenpolitik einzuleiten, vielmehr wird die Politik der Durchsetzung der Interessen des deutschen und europäischen Kapitals auf den Weltmärkten beschleunigt.

Die Politik der rot-grünen Bundesregierung ist weiterhin geprägt von einer Vereinfachung von spekulativen Anlagemöglichkeiten für das Geldkapital und einer steuerlichen Entlastung von hohen Einkommen. Die Bundesregierung nimmt bewusst in Kauf, die finanziellen Grundlagen der öffentlichen Haushalte weiter zu zerstören. Durch die gleichzeitige Privatisierung immer größerer Teile der sozialen Sicherungssysteme werden immer mehr Menschen sozial ausgegrenzt.

Münteferings verbaler Angriff auf Hedge-Fonds und die »Kannibalisierung« von Unternehmen und den kurzfristigen Profitinteressen des Kapitals greift dabei zu kurz, da diese Form des Wirtschaftens integraler Bestanteil der heutigen Phase des überakkumulierten Kapitals ist.

Die Debatte in der SPD hat jedoch auch Handlungsräume für die Linke eröffnet. Die Kritik Münteferings an einigen Erscheinungen des alltäglichen Kapitalismus hat die Kritik an kapitalistischen Entwicklungen aus den Nischen der kleinen linken Organisationen in die Massenmedien zurückgeholt. Plötzlich erscheint es »schick«, den »kapitalistischen Untrieben« eine verbale Kritik entgegenzusetzen. Dabei ist es jedoch wie im Theater: Allgemeine Kritik ist erwünscht, reale Veränderung verpönt!

Trotzdem könnten sich für linke Gewerkschafter, Aktive in antikapitalistischen oder reformorientierten Bewegungen bessere Möglichkeiten für eigene Debatten eröffnen. Die aktuelle Diskussion, die Umfragen zufolge über 75 Prozent der Deutschen begrüßen, zeigt auch, dass kapitalismuskritische oder antikapitalistische Argumente noch immer rudimentär im Bewusstsein vorhanden sind.

Es hilft der Linken nicht, um diese Debatte als Wahlkampf zu entlarven, den Spruch zu rezitieren: »Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!« Vielmehr sollte die Debatte aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Attac, Gewerkschaften, Sozialverbände, aber auch die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit und die PDS können durch diese Debatte neue Impulse für eine antikapitalistische oder zumindest linksreformerische Veränderung des Kapitalismus setzen, wenn es gelingt, aus dieser Wahlkampfdebatte eine Debatte über reale Veränderung von Politik und Gesellschaft zu organisieren.

Ob es der Linken gelingt, an diese Diskussion anzuknüpfen, ist zur Zeit völlig offen, da ein Teil der Linken völlig überrascht wirkt und sich in den Schmollwinkel verzieht, nach dem Motto: »Der darf das nicht sagen!« Dass diese Debatte in der antikapitalistischen und reformsozialistischen Linken kreativ aufgegriffen würde, ist derzeit noch wenig zu erkennen.

Uwe Hiksch ist ehemaliger Bundestagsabgeordneter und heute Mitglied des Bundesvorstands der Naturfreunde Deutschlands.