Debatte? Welche Debatte?

Die Kapitalismusdebatte ist nicht Teil der Lösung, sondern das Problem. von carlos kunze

Eine Debatte erschüttert Deutschland – die »Kapitalismus-Debatte«. Und schon macht sich Panik im Unternehmerlager breit. Der Unternehmensberater Roland Berger sagte dem Spiegel: »Wenn einzelne Unternehmenspersönlichkeiten öffentlich verurteilt werden, muss man sich nicht wundern, wenn irgendwelche Verrückten schließlich RAF spielen. Wir haben ja erlebt, wie es enden kann, wenn solcher Hass gesät wird.«

Eröffnet hat die Debatte der bekannte Kapitalismusexperte Müntefering mit einer brillanten Analyse: »Manche Finanzinvestoren verschwenden keinen Gedanken an die Menschen, deren Arbeitsplätze sie vernichten. Sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter. Gegen diese Form von Kapitalismus kämpfen wir.«

SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter legte nach. »Wir haben weltweite Vernetzungen, wo das Finanzkapital die nationalen Bemühungen um anständige Arbeitsverhältnisse so konterkariert, dass wir uns weltweit überlegen müssen, wie wir dagegenhalten können«, sagte er im Bayerischen Rundfunk. Das ist deutscher Antikapitalismus vom Feinsten: Das internationale Finanzkapital macht die deutsche Arbeit kaputt.

Und diese Ideologie wird prompt von anderen Antikapitalisten ähnlichen Kalibers zur »Kapitalismus-Kritik« geadelt. Der Koordinierungskreis von Attac hat Müntefering zu einer »öffentlichen Debatte über seine kapitalismuskritischen Thesen« eingeladen, aber er wollte nicht kommen. »Müntefering kneift«, erklärte Oliver Moldenhauer aus dem Koordinierungskreis munter. »Offenbar will er aus seiner zutreffenden Analyse keinerlei praktische Konsequenzen ziehen und fürchtet sich darum vor kritischen Fragen.«

Münteferings »zutreffende Analyse« muss aber theoretisch noch ein wenig unterfüttert werden, denn »Müntefering ist nicht der neue Marx«, wie Linksruck ein Interview mit dem Attac-Sprecher Peter Wahl betitelt. Der bringt es auf den Punkt: »Jemand schrieb einmal, dass das Wesen des Menschen das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Die Verhältnisse im Moment sind die regierende Share-Holder-Value-Logik – kurzfristiges Profitdenken.« Die Verhältnisse sind die Logik, die wiederum das Wesen ausmacht – alles klar.

Warum aber hat diese Logik einen so verdammt amerikanisch klingenden Namen? Das erklärt uns Michael Müller, Sprecher der Parlamentarischen Linken der SPD. »Es findet ein unerklärter Wirtschaftskrieg statt«, ein Kampf »zwischen dem Alten Europa und der ökonomistischen Moderne«, die auch als amerikanischer Raubtierkapitalismus bekannt ist.

Solcher Art antikapitalistische Gedanken scheinen in Deutschland durchaus mehrheitsfähig zu sein, schließlich »halten zwei Drittel der Deutschen (66 Prozent) die Kritik des SPD-Vorsitzenden Müntefering an der ›Macht des Kapitals‹ sowie der einseitigen Orientierung der Wirtschaft an ihren Gewinnen zu Lasten von Arbeitsplätzen für berechtigt«, wie die Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit Nordrhein-Westfalen auf ihrer Webpage verkündet. Führende Politiker würden versuchen, »die erpresserischen, räuberischen Einstellungen von Unternehmen und Management auf eine mangelnde ethnisch-moralische Bindungen zurückzuführen«. Ethnie und Ethik liegen hierzulande bekanntlich nicht weit voneinander entfernt.

Aber auch wenn dieser kritische Gedanke in einer grammatikalisch verwegenen Form daherkommt, stellt er doch eine wichtige Ergänzung zur Frage der Moral im Kapitalismus im Allgemeinen und der Kapitalisten im Besonderen dar. Zu dieser hat sich auch Edzard Reuter geäußert, der von »furchtbaren Menschen, die in ihrer Gier sämtliche Verantwortung beiseite geschoben haben«, sprach. Dies sei eine »Erscheinung des modernen Kapitalismus in einer globalisierten Finanzwelt«.

Wenn sogar schon ehemalige Konzernmanager solche »kapitalismuskritischen« Gedanken äußern, ist die Zeit reif. Aufgabe der Linken kann es dann nur sein, an die Debatte anzuknüpfen, die Spielräume, die sie eröffnet, zu nutzen und die Antikapitalisten zu vernetzen. Wenn Reuter, Müntefering, Benneter und die anderen 66 Prozent der Deutschen endlich an einem Strang ziehen, dann dürfte es auch nicht mehr lange dauern, bis die Brechung der Zinsknechtschaft erfolgreich durchgeführt ist.