Das Kriegsende der Generation Golf

Während die Kinder der Tätergeneration sich als Opfer neu erfinden, fangen die Enkel an, sich mit ihren Großeltern zu versöhnen. von benedikt köhler

In der Bundesrepublik ist es seit den neunziger Jahren en vogue, bestimmte Altersgruppen als »Generationen« zu etikettieren. So werden Erfahrungen, Lebensläufe und Probleme der Frauen und Männer, die in einer bestimmten historischen Periode geboren oder aufgewachsen sind, zu einer Einheit homogenisiert. In den vergangenen zehn Jahren war in den Medien und der Literatur immer wieder von den Achtundsechzigern, den Neunundachtzigern oder der so genannten Generation Golf zu lesen.

Heute, in unmittelbarer Erwartung des 60. Jahrestages des Kriegsendes, tritt eine weitere Generation immer deutlicher in Erscheinung: die Generation der Kriegskinder. Die Schicksale der heute etwa 60- bis 80jährigen könnten unterschiedlicher nicht sein: Manche von ihnen haben die alliierten Bombardierungen Deutschlands als kleine Kinder miterlebt, andere sind in einem Lebensbornheim auf die Welt gekommen, wieder andere haben einen Vater, der zu Adolf Hitlers engstem Führungskreis gehörte.

Viele von ihnen sind aus der Heimat ihrer Eltern vertrieben worden und einige sind aus der Beziehung eines Wehrmachtssoldaten zu seiner russischen, französischen oder dänischen Geliebten hervorgegangen. Die meisten von ihnen stellen gegenwärtig fest, dass sie oder ihre Altersgenossen nachhaltige psychische und physische Schäden erlitten haben.

Auch Wissenschaftler beginnen vermehrt, ihre eigene Biographie in den Blick zu nehmen. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist Hartmut Radebold (Jahrgang 1935), emeritierter Professor für klinische Psychologie an der Universität Kassel und Autor eines Buchs über »Abwesende Väter«, in dessen Vorträgen zu dem Thema kühlen wissenschaftlichen Fachbegriffen wie »Parentifizierung« und »Traumatisierung« emotionale Schilderungen der eigenen Erinnerungen an Flucht und Verdrängung und die problematische Verarbeitung dieser Erlebnisse gegenüber stehen.

Zudem beginnt sich diese Generation zu organisieren. Aus einer interdisziplinären Tagung über »Kriegskinder einst und jetzt« in der Evangelischen Akademie Bad Boll entstand eine Arbeitsgruppe zur Erforschung der Spätfolgen des Krieges in der Bundesrepublik, die mittlerweile unter der Bezeichnung »Kriegskind.de e.V.« firmiert. Seit dem Jahr 2002 treffen sich darüber hinaus auch die Mitglieder des interdisziplinären freien Forschungsverbundes »Kindheiten des Weltkrieges 2« regelmäßig, um ihre Arbeiten über das Thema auszutauschen.

Mitte April begegneten sich im Frankfurter IG-Farbenhaus Kriegskinder, WissenschaftlerInnen und StudentInnen auf der internationalen Tagung »Die Generation der Kriegskinder und ihre Botschaft für Europa«, um den historischen und therapeutischen Diskurs über diese Kategorie von Opfern des Krieges zu vertiefen, aber auch, um die Kriegskinder überhaupt erst als Generation im öffentlichen Diskurs zu etablieren.

Immer wieder zeigen die Angehörigen der Generation der Kriegskinder in Vorträgen, Bü-chern und Interviews, wie sehr die Vergangenheit des Nationalsozialismus immer noch in ihre Gegenwart hineinwirkt und zudem bei vielen von ihnen auch jetzt noch traumatische Folgen hat. Das Kriegsende war eben noch lange nicht das Ende des Krieges.

Indem sie sich aber als Generation der Kriegskinder beschreibt, verlieren Fragen nach Schuld und Unschuld ihre Bedeutung. Kinder, so wird immer wieder betont, gehören stets zu den ersten, hilflosen und unschuldigen Opfern des Krieges. Egal, in welchem Krieg und egal auf welcher Seite. Die Selbstbeschreibung dieser ergrauten Damen und Herren jenseits des Alters von 60 Jahren als die kleinen Kinder, die sie einst waren, zeichnet das Bild einer unschuldigen Generation deutscher Opfer. Und deshalb können neben den traumatischen Berichten von auf der Straße liegenden Bombenopfern auch kindlich-unschuldige Anekdoten über die Hitlerjugend, die Kinderlandverschickung und Spielplätze in Ruinen erzählt werden. Das Buch »Unschuldige Zeugen. Der Zweite Weltkrieg in den Augen von Kindern« der emeritierten Kinderpsychologin Emmy Werner (Jahrgang 1929) etwa ist voll von solchen Auszügen aus Briefen von Kriegskindern und aus ihrer eigenen Lebensgeschichte.

Aber es ist nicht allein die Generation der Kriegskinder, die sich gegenwärtig an den Spätfolgen des Nationalsozialismus abarbeitet und so selbst definiert. Immer öfter berichten auch andere, deutlich jüngere, von ihren »Erfahrungen« mit dem Nationalsozialismus: die Generation der »Kriegsenkel«, personalisiert zum Beispiel in dem Autor und Redakteur Christoph Amend (Jahrgang 1974) oder dem Filmemacher Jens Schanze (Jahrgang 1971). In ihren Arbeiten steht nicht mehr die Frage nach den traumatischen Folgen des Zweiten Weltkrieges für die Kinder im Mittelpunkt, sondern der problematische Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe der eigenen Familien.

Christoph Amend hat sich in seinem Buch »Morgen tanzt die ganze Welt« auf die Suche nach der Generation der Großväter und ihren verdrängten Erfahrungen in der NS-Zeit gemacht. Seine Gespräche mit Prominenten wie Richard von Weizsäcker, Hellmuth Karasek oder Joachim Fest legen die ganze Ambivalenz der Beziehung zwischen den beiden Generationen offen. Hätte er, Amend, selbst die Standfestigkeit besessen, eine publizistische Musterkarriere im »Dritten Reich« auszuschlagen, wie sie zum Beispiel der Autor der Fernsehserie »Derrick«, Herbert Reinecker, durchlaufen hat? Amend sieht sich nicht in der Lage, diese Frage entschieden zu verneinen.

Ähnlich arbeitet Jens Schanze, Absolvent der Münchener Hochschule für Fernsehen und Film, in seinem Abschlussfilm »Winterkinder«. Darin unterhält er sich unbefangen mit seinen Eltern und Geschwistern über die Nazi-Vergangenheit seiner Familie und vor allem seines Großvaters. Insbesondere eine Episode bleibt in der Erinnerung hängen: Seine Mutter beantwortet die Frage danach, ob der Großvater eigentlich ein Nazi gewesen sei, bezeichnenderweise indem sie zuerst den Kopf schüttelt, dann jedoch die Frage bejaht, allerdings mit dem Vorbehalt, dass der Begriff »Nazi« nicht so schön klinge.

Der Begriff der Altersmilde erfährt auf diese Weise eine neue Bedeutung. Nicht mehr die wachsende Milde des gealterten Menschen im Blick auf die Welt bezeichnet er hier, sondern die Milde der nachwachsenden Generationen im Umgang mit den Alten. Dies mag seine Vorteile haben. Man versucht, anders mit den Dingen umzugehen, anders als die 68er-Generation, die durch das beharrliche Anprangern der Kontinuität zwischen dem »Tausendjährigen Reich« und der gerade einmal zwanzig Jahre alten Bundesrepublik unter anderem die Beziehung zu ihren Eltern zerstören musste und somit auch alle Möglichkeiten, mehr zu erfahren als nur Fakten aus Dokumenten. Ist die Altersmilde der Enkel gar ein überlegenes Mittel der Erkenntnis im Umgang mit dem Grauen?

Gleichzeitig mit der wissenschaftlichen und therapeutischen Erinnerung und Durcharbeitung der Spätfolgen von Krieg und Kriegsende entsteht ein weiterer Versuch des Umgangs mit der Geschichte, der mit dem ersten kaum etwas zu tun hat. Es handelt sich um ein Projekt, in dem die Entnazifizierung des Denkens und der Institutionen und das Nachfragen der Achtundsechziger gar nicht stattgefunden hat. Dies ist die Welt der Enkelgeneration, in der sich Milde und Versöhnung als Mittel der Erkenntnis durchgesetzt haben gegenüber dem anklagenden Ton ihrer eigenen Eltern.

Die Enkel definieren ihre Aufgabe mehr als biografische denn als gesellschaftskritische.

Lautet die Botschaft der Kriegskinder, dass ihre Schicksale nun endlich auch Anerkennung erfahren sollten, so ist die Botschaft der Kriegsenkel sehr viel ambivalenter und schwankt zwischen Begreifen und Verständnis. Das Schweigen, das von ihnen gebrochen wird, ist in vielen Fällen gar nicht das Schweigen, das die blinden Flecken in der Familiengeschichte verdeckt. Es geht vielmehr um einen unverkrampften und liebevollen Umgang mit der Generation der Täter und ihrer Vergangenheit.

Beide Erzählungen, die der Kriegskinder und die der Enkel der Täter, eint jedoch die Aufhebung der üblichen Unterscheidung von Opfern und Tätern. Die der Kriegskinder, weil sie als Kinder jenseits aller Schuld stehen, und die der Kriegsenkel, da sie sich, um einem Dialog mit Nationalsozialisten oder schlicht: Tätern auszuweichen, lieber mit Großvätern und Großmüttern, zumal noch ihren eigenen, unterhalten.