Wiegen, messen, schneiden

Eine neue Studie geht der Faszination der Hirnforscher für das »geniale Gehirn« nach. von michael saager

Einsteins Gehirn ist ein mythisches Objekt. Paradoxerweise liefert die größte Intelligenz das Bild der vollkommensten Mechanik. Der allzu kraftvolle Mann wird von der Psychologie losgelöst und in eine Welt der Roboter versetzt. Es ist bekannt, dass in den Zukunftsromanen die Übermenschen immer etwas Versachlichtes haben. Ebenso Einstein. Man bezeichnet ihn im Allgemeinen durch sein Gehirn, ein anthologisches Organ und regelrechtes Museumsstück.

Roland Barthes, »Mythen des Alltags«

Seine kritische Befragung aktueller Mythen schrieb Roland Barthes im Jahr 1964. Es war eine Zeit, in die ein über 200 Jahre alter Fetisch, der Fetisch des Geniegehirns, nicht länger passen sollte. Eine an der Physiognomik orientierte Visualisierung des Organs, die klassische Hirnanatomie und mit ihr der histologische Schnitt in und durch konkrete menschliche Gehirne waren vorerst passé. Das neue Paradigma, die kybernetische Hirnforschung, hatte die Differenz zwischen Maschine und Gehirn eingeschmolzen. Die morphologische Struktur trat hinter das digitale On-Off-Prinzip der Nervenzellen. Das Gehirn wurde computerisiert und anonymisiert. Umso auffälliger das mediale Spektakel um Einsteins Gehirn.

Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich, deutet in seiner profunden historischen Studie »Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung« den Ausnahmefall Einsteins so: Sein Gehirn sei weder in seiner elektrophysiologischen Eigenart noch in seiner morphologischen Struktur eine singuläre Erscheinung gewesen, sondern darin, dass es »von Anfang an als Kultobjekt gehandelt wurde, ohne jedoch ein Objekt der Hirnforschung zu sein«. Auch Barthes’ Aufsatz über »Einsteins Gehirn« bestätigt indirekt den Niedergang der Elitegehirnforschung: Indem der Semiotiker Einsteins Denken zur roboterhaften funktionellen Arbeit umdeutet, erweist sich seine Interpretation gewissermaßen selbst als Funktion des kybernetischen Computer-Gehirn-Dispositivs. »Der Mythos von Einsteins Gehirn«, schreibt Hagner, »liegt darin begründet, dass es keine Geheimnisse gibt.«

Nun heißt das nicht, das Gehirn sei nicht länger ein geheimnisvoller Ort. Das ist es, wie man weiß. Heute noch mehr als vor 40 Jahren. Zur neuen Leitwissenschaft wurde die Hirnforschung unlängst erklärt, was vor allem den Wunsch nach einer neuen großen Erzählung von der Humboldtschen Einheit des Wissens zum Ausdruck bringt. Sie wird so schnell nicht zu Ende erzählt werden. Interne Kenntnisse wie etwa die des Gehirnforschers Wolf Singer sind ernüchternd: Weder kennt man die genaue Anordnung der Nervenzellenverbindungen in der Großhirnrinde noch gar ihre funktionelle Gewichtung. Wie z. B. kohärente Wahrnehmungen entstehen, koordiniertes Verhalten und Bewusstsein, weiß gegenwärtig niemand.

Wissenschaftler wie Singer sind wichtig – sie werden zwar nicht gerne gehört, aber sie dämpfen die allzu idiotische Euphorie über die neue Weltformel, die sich seit kurzem angeblich im Gehirn versteckt. Nicht minder wichtig für das (Selbst-)Verständnis der Hirnforschung ist jemand wie Michael Hagner. Bekannt wurde er 1997 mit seinem Buch »Homo cerebralis – Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn«. »Geniale Gehirne« nun, ursprünglich als ein Kapitel des ersten Buches gedacht, bildet den Abschluss der dringend notwendigen Historisierung einer Disziplin, die, wie die meisten Naturwissenschaften, mit unendlicher Hybris glaubt, eigentlich ganz gut ohne Geschichte auskommen zu können. Viele Naturwissenschaftler sind nach wie vor der Meinung, sie würden nichts als harte Fakten produzieren. Kultur und Geschichte seien vernachlässigenswerte Größen.

Offensichtlich inspiriert von Michel Foucault und gegenwärtigen WissenschaftshistorikerInnen wie Bruno Latour, Michel Serres oder Lorraine Daston zeigt Hagner, wie stark die Wechselwirkungen zwischen Natur, Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft immer schon waren. Deshalb fragt er, »in welchen historischen Konstellationen sich Praktiken, Theorien und Dispositive zur Konstruktion des genialen Gehirns zusammengefügt haben«. Ausgangspunkt seiner Untersuchungen ist das 19. Jahrhundert – das Jahrhundert des Aufstiegs der Hirnforschung, und damit eben auch das Jahrhundert, in dem das geniale Gehirn zu einem beliebten Forschungsobjekt wurde. Denn die geniale Begabung, das Außerordentliche, war ja schon immer ein Thema, das Gelehrte und die breite Öffentlichkeit faszinierte.

Welches die Wissensräume waren, in denen die Gehirne bedeutender Persönlichkeiten »ins Licht gerückt, mit Bedeutung aufgeladen, metaphorisiert oder als Chiffre für bestimmte Leitvorstellungen instrumentalisiert worden« sind, möchte Hagner wissen. Dazu geht er mit der gebotenen Liebe zum Detail die gar nicht so verschlungenen Diskurswege der Anatomie und Psychiatrie, der Anthropologie und Schädelkunde, der Philosophie und Ästhetik ab. Dass sich seine Studie vor allem um eine übersichtliche Anzahl recht geordneter Forschungsdiskurse dreht und kaum um komplexe und miteinander verschränkte (Macht-)Dispositive, hängt vermutlich weniger damit zusammen, dass Hagner keine Lust hatte, eine kritische Sozialgeschichte der Disziplin zu schreiben. Realistischer scheint, dass der Untersuchungsgegenstand »Geniale Gehirne« eine Geschichtsschreibung »von unten« nicht unbedingt nahe legt: Die Beschäftigung mit dem Genius innerhalb des Elfenbeinturms der Wissenschaften hatte wahrscheinlich nicht allzu viele reale Auswirkungen auf das Leben der »einfachen« Menschen.

Die Untersuchungsmethoden (Schädelvermessungen, Hirnwägungen, Windungsphysiognomik), die damit zusammenhängenden wissenschaftlichen Standards, Konservierungs-, Präparations- und visuelle Darstellungsverfahren, sie alle haben sich in 200 Jahren erheblich geändert. Gleich blieb indes die immer wieder gestellte Frage nach der Differenz. Und in dieser Hinsicht ist das Interesse am Genie, an dem, was sein Gehirn von einem »normalen« unterscheidet, strukturell und biopolitisch eng verwandt mit dem Interesse an den Gehirnen von Geisteskranken und Kriminellen. Besonders aufschlussreich ist hier das Kapitel »Lombrosos Gehirn und Zolas gläserner Schädel«. Hagner weist nach, wie mit dem Turiner Psychiater Cesare Lombroso der Zusammenhang von Genie und Wahnsinn »zu einem europäischen Dauerthema« wurde. Waren die Diskurse über Genialität, Kriminalität und Wahnsinn bis dahin nur lose verknüpft, so entsteht im Fin de Siècle eine Pathologie des Genies. Lombroso rückt die Hochbegabten erst in den Ruch der Kriminalität, um sie bald darauf als Degenerationsphänomen abzustempeln. »Das Junktim zwischen Kreativität und Entartung wird unausweichlich, und das Genie mutiert zu einer traurigen Gestalt, die ihrem Untergang entgegensieht.«

Lombroso war ein unverbesserlicher Spinner, seine Untersuchungsmethoden abenteuerlich, und was nicht ins Bild passte, ließ er einfach unter den Tisch fallen. Wahllos trug er vor allem biographisches Material über geniale Gehirne zusammen. Denn er verfügte zwar über eine enorme Sammlung von Schädeln, Gehirnen, tätowierten Hautabschnitten und allerhand anderen (kriminal-) anthropologischen Objekten – Gelehrtengehirne besaß er jedoch keine. Lombroso übertrieb es und bugsierte sich auch in den Augen der Öffentlichkeit irgendwann ins Abseits. Der Hirnforscher und Zeitgenosse Theodor Meynert hielt – so wie viele andere erzürnte Hirnforscher auch – Lombrosos Verbrecher- und Genietheorie, der alles inner- und außerhalb des Gehirns, was von der Norm abwich, verdächtig erschien, »für den größten Schund, mit dem je Schwindel getrieben wurde«.

Hagner zeigt: Das Spektrum der vermessenen prominenten Schädel, der untersuchten und in Scheiben geschnittenen Geniegehirne ist enorm. Zu den bekanntesten gehören die Gehirne von Kant, Schiller, Schopenhauer, Kleist, Hermann von Helmholtz, Adolf von Menzel und Lenin. Ferner das in kleine Würfel zerhackte und auf verschiedene Laboratorien verteilte Gehirn Einsteins, und schließlich das von Ulrike Meinhof. Bei der Untersuchung ihres Gehirns stellte sich heraus, dass es eine pathologische Abweichung aufwies. Hätte man das vor ihrem Tod gewusst, so hätten sich daraus möglicherweise Konsequenzen für ihre strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit ergeben, zitiert Hagner den Neuropathologen Jürgen Pfeiffer.

Der Historiker Hagner steht der Elite- oder Geniegehirnforschung außerordentlich skeptisch gegenüber. Eine Disziplin, in der man letztlich ohne Ergebnis darüber stritt, ob eine Besonderheit im Hirnwindungsmuster nun eine Anomalie oder vielleicht nur ein Ausdruck großer Variationsbreite sei – was soll man von ihr halten? Oder, etwas drastischer formuliert: Diese seltsame »säkularisierte Praxis der Erinnerungskultur« hat im Grunde wenig mehr zutage gefördert als (pseudowissenschaftlichen) biologischen bzw. biologistischen Unsinn.

Allein, aufhören wird sie nicht so schnell, die Begeisterung für die Gehirne von Genies. Das bilderarme kybernetische Paradigma ist längst ergänzt worden durch eine neue Ikonophilie der Hirnforschung. Das hoch aufgelöste Magnetresonanzbild lässt endlich wieder Köpfe erscheinen, dieses Mal mit Farbtupfern versehen. Da könnte man doch vielleicht dem Genie beim Denken zusehen? Hagner erkennt in der Art und Weise, wie diese Hirnbilder inszeniert und gedeutet werden, einen Rückfall ins 19. Jahrhundert.

Michael Hagner: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung. Wallstein Verlag, 2004, 384 S., 38 Euro