Die Sache Dresden

Der englische Historiker Frederick Taylor widerlegt in seinem Buch über die Bombardierung Dresdens viel zitierte Legenden. von christian saehrendt

Auch 60 Jahre nach Kriegsende hält die Debatte um den alliierten Bombenkrieg gegen Deutschland an. Die Medien warten mit zahlreichen Berichten von »Zeitzeugen«, Bildern, Filmen, wissenschaftlichen und literarischen Zeugnissen auf, die die Deutschen als Opfer des Krieges zeigen.

Die Berichte von Überlebenden der Angriffe sind teilweise ungeheuer grauenvoll, sie erregen Abscheu und Wut bei den Lesern und Zuschauern. Für Aufsehen sorgte der Versuch der NPD, den Terminus »Bombenholocaust« in die Debatte einzuführen. Unschwer ist die Absicht dahinter zu erkennen, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu relativieren und die Erinnerung daran zu überdecken.

Doch Auschwitz und Dresden sind unvergleichbar. Während die Vernichtungslager zum Zweck einer effektiven Tötung von Millionen von Menschen geplant und erbaut wurden, stellte der Bombenkrieg eine moderne Kriegsstrategie dar, die von allen Seiten praktiziert, von den Westalliierten jedoch unter spezifischen historischen Bedingungen perfektioniert wurde. Dabei war die Massentötung von Zivilisten zwar ein teilweise erwünschter Nebeneffekt, nicht aber die Hauptmotivation.

Bis heute sind viele Fragen ungeklärt: War der Bombenkrieg ein notwendiges, effektives und unverzichtbares Mittel zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus? Hat er den Krieg verkürzt? Haben die Bewohner Dresdens ein Opfer bringen müssen, damit viele andere überleben konnten? Oder war der Bombenkrieg ein Fehlschlag, der von verbissenen Technokraten trotzdem weiterbetrieben wurde und immer Opfer forderte?

Die Unversöhnlichkeit in dieser Frage wurde etwa 1992 deutlich, als dem Chef des britischen Bomber Command, Sir Arthur Harris, in London ein Denkmal errichtet wurde, das von der Queen eingeweiht wurde. Dies war wohl auch als geschichtspolitisches Warnsignal an das wiedervereinigte Deutschland gemeint. Auf der anderen Seite kritisierte der Historiker Jörg Friedrich in seinem Buch »Der Brand«, das im Jahr 2002 erschien, hart die alliierte Kriegsführung gegen Deutschland, sprach von einem »Vernichtungskrieg« und schilderte detailliert das Leid der Bombenopfer, der »Ausgerotteten«.

Um so wichtiger ist es, dass sich Historiker immer wieder bemühen, die Fakten zu eruieren und gefühlsbetonte öffentliche Debatten abzukühlen versuchen. Der britische Historiker Frederick Taylor trägt mit seiner Studie »Dresden, Dienstag, 13. Februar 1945« dazu bei.

Der Luftkrieg entwickelte sich im Ersten Weltkrieg als modernes strategisches Mittel. Alle europäischen Mächte zogen aus dem verlustreichen Stellungskrieg ihre Schlüsse und bauten in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts Luftstreitkräfte auf. Luftangriffe mit Flächenbombardements und Giftgaseinsatz sollten zum schnellen Sieg verhelfen und eigene Kräfte schonen.

Zu Beginn des zweiten Weltkriegs hatte die deutsche Luftwaffe noch einen Rüstungsvorsprung und bombardierte britische Städte. Dieses Kräfteverhältnis wandelte sich ab dem Jahr 1941. Großbritannien und die USA bauten konsequent eine Flotte strategischer Fernbomber auf, der Fliegeroffizier Arthur Harris übernahm 1942 das Kommando über das Bomber Command der RAF.

Er hatte bereits seit 1922 Erfahrungen im Bombenkrieg sammeln können. Britische Truppen in Afghanistan und im Irak gingen damals mit Bombenangriffen gegen Aufständische und gegen Siedlungen vor. Im Irak, der 1920 unter britische Kontrolle geriet, ging es darum, einen unabhängigen Kurdenstaat zu verhindern. Später übernahm Harris das Bomber Command und genoss die Unterstützung des Premierministers Winston Churchill. Er war davon überzeugt, eine kriegsentscheidende Waffe zu befehligen. 1942 genehmigte der britische Verteidigungsausschuss die »Area Bombing Directive«, also Flächenangriffe auf Innenstädte und dicht besiedelte Verkehrs- und Industriezentren. Dieses »Dehousing«-Konzept sollte durch die Kombination von Spreng- und Brandbomben eine maximale Zerstörungsleistung in Wohngebieten bewirken.

Briten und Amerikaner bauten sogar »typisch deutsche« Wohnhäuser und Wohnungen nach, um die Bombenwirkung detailliert zu testen. Der exilierte Berliner Architekt Erich Mendelsohn war dabei auf dem Testgelände Dugway in Utah behilflich. Die Flächenbombardements sollten wirksamer sein als punktuelle Schläge gegen die Rüstungsindustrie, sie sollten mit der Vernichtung von Wohnraum und Massentötungen die Moral und Regimetreue der deutschen Zivilbevölkerung untergraben. Dieses Ziel erreichte die Royal Air Force nicht.

Nach der weitgehenden Zerstörung Hamburgs im Juli 1943 kam es kurzfristig zu Panik in der Bevölkerung und der NS-Führung, doch bald einte der Hass auf die »Terrorflieger« die Deutschen wieder. Dennoch hatte der Bombenkrieg der Alliierten, so glauben viele Militärhistoriker, indirekt kriegsentscheidende Wirkung. Er habe die deutsche Luftwaffe von der Ostfront abgezogen und so einen deutschen Sieg gegen die Sowjetunion unmöglich gemacht.

Nach dem Ende der Kämpfe in Europa wurde der Bombenkrieg von den US-Amerikanern gegen asiatische Nationen weiterbetrieben. Die konventionellen Angriffe auf Tokio und die Atombombenabwürfe, die auch als Warnung an die Sowjetunion interpretiert werden können, forderten viele Opfer. Ein weiterer Höhepunkt dieser Entwicklung war die Flächenbombardierung Vietnams mit Napalm. In der Gegenwart der Irak- und Afghanistankriege hat das Präzisions- gegenüber dem Flächenbombardement den Vorzug erhalten, weil die Militärs weit mehr als früher auf Medien und die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen müssen.

Die Zerstörung Dresdens wurde indes zum Symbol für die destruktive und entfesselte Kraft des modernen Krieges. Es klingt widersinnig, doch der Angriff auf Dresden war von den Alliierten als Routinevorgang geplant worden. Durch eine Reihe von unglücklich verketteten Faktoren wurde ein enormer Zerstörungsgrad erreicht. Sogar in der Presse der alliierten Länder wurde von einem »Terrorangriff« gesprochen. Die Symbolwirkung des Angriffs war stets mit Legenden verknüpft und wurde propagandistisch genutzt. Dabei spielte Dresdens Ruf als Kulturmetropole eine Rolle, auch der Zeitpunkt des Angriffs, der enorme Zerstörungsgrad und die Zahl der Opfer wurden propagandistisch verzerrt.

Taylor widerlegt diese Legenden. Er belegt, dass Dresden nicht nur eine unverteidigte Kulturstadt, sondern auch ein wichtiger Rüstungsstandort, also ein legitimes Bombenziel, war, und bestätigt die Zahl der 25 000 bis 30 000 Opfer auf der Grundlage deutscher Polizeiangaben. Dies ist eine schreckliche Zahl, doch sie liegt weit unter den kursierenden sechsstelligen Angaben.

Die oft kolportierten Angriffe amerikanischer Tiefflieger auf Überlebende in den Elbwiesen verweist Taylor ins Reich der Legende. Gleichzeitig würdigt er die Leiden der Opfer und räumt Augenzeugenberichten, die die Szenerie schildern, breiten Raum ein. Ungeheuerlich erscheinen etwa die Ereignisse an oberirdischen Löschwasserbecken, die auf Dresdner Stadtplätzen angelegt worden waren. Wegen der Brände stürzten sich viele Menschen in die Becken, konnten sie aber wegen der glatten Wände nicht mehr verlassen, als die Wassertemperatur unaufhaltsam stieg. Manche ertranken, andere wurden buchstäblich gekocht. Noch Wochen nach dem Angriff wurden auf dem Altmarkt gestapelte Leichen auf Scheiterhaufen verbrannt. Die technische Aufsicht führten dabei »Experten« der SS aus dem Vernichtungslager Treblinka. Sie brachten die nötige »Kompetenz« mit.

Im Kalten Krieg vergaß man im Ostblock rasch den Vorteil, den die Sowjetunion von der Kriegsführung der Westalliierten gehabt hatte. Nun galt der Bombenkrieg als Vorläufer der atomaren Bedrohung durch den »imperialistischen« Westen. Es erstaunt daher auch nicht, dass das Gedenken an den »Untergang« Dresdens in der DDR antiwestliche Züge annahm, wobei zum Teil sogar Propagandaelemente des »Dritten Reiches« integriert wurden.

Die DDR sprach angesichts der westdeutschen Wiederbewaffnung sogar von einem Bündnis der »Mörder von Dresden und Coventry«. Dresden sei auch deshalb so stark zerstört worden, weil es für die sowjetische Besatzungszone vorgesehen war. Dieser Gedanke ist nicht ganz von der Hand zu weisen, gibt es doch britische Dokumente, die die Bombardierung Dresdens als Lektion für die anrückenden Russen bezeichnen.

Die gegenwärtigen Gedenkfeiern in Dresden stehen im Zeichen eines politischen Pluralismus. Während bei den offiziellen, zum Teil mit internationaler Beteiligung stattfindenden Veranstaltungen der Geist der Versöhnung beschworen und neuerdings auch auf den Beginn des Krieges und die deutsche Schuld daran verwiesen wird, versuchen die Rechtsextremisten, die Geschichte für ihre Zwecke zu nutzen. Taylor hat dieses widersprüchliche Gedenken in einem Kapitel beschrieben, sowohl den stillen, raschen Auftritt der britischen Diplomaten, die ergriffene schweigende Mehrheit, als auch den martialischen Auftritt der Neonazis und die Gegenprovokation einiger Linker mit der Parole: »Bomber-Harris, do it again!«, über die er am meisten den Kopf schüttelte.

Wegen seiner Sicht auf die Dinge konnte er eine Veranstaltung im Rathaus in Dresden im Januar allerdings nur unter Polizeischutz abhalten.

Frederick Taylor: Dresden, Dienstag, 13. Februar 1945. Militärische Logik oder blanker Terror? Bertelsmann, München 2004. 26 Euro