Was wir wollen können

Wenn schon Galeerensklave, dann wenigstens keine Fahrtenlieder, meint stefan ripplinger

Die Eitelkeit sei eine fast unheilbare Krankheit, schrieb Karl Philipp Moritz. Das einzige Gegengift biete die Beschäftigung mit der Astronomie. Angesichts der Sterne sind auch die Stars recht klein.

Ein paar Jahrzehnte nach Moritz’ Tod hat die politische Pharmazie noch ein zweites Gegengift gemischt, den Historischen Materialismus. Er enttäuscht die, die in eitler Selbstüberhebung Geschichte und Gesellschaft aus den Angeln heben wollen, er enttäuscht Wunsch und Kitsch. Welche irdischen Paradiese sich der Leser Blochs oder der Eintänzer der Multitude auch erträumen mögen, dem Materialismus sind sie Wolkenkuckucksheime. Gewiss, er kennt eine Freiheit. Aber sie ist nichts als die Einsicht in die Notwendigkeit und damit ein schwacher Ersatz für die, welche dem Weltverbesserer vorschwebt, der sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen vermeint. Was einer wollen kann, kann er, heißt es hier, nur als vergesellschaftetes Wesen, als Bourgeois oder Proletarier, wollen. Sein Wollen hängt vom Können ab. Auch die Freiheit wird also determiniert, in letzter Instanz von der Ökonomie, und ist, streng verstanden, gar keine.

Selbst wenn wir nicht mehr annehmen, dass Marx und Engels Einsicht genug in die Notwendigkeit besaßen, ernüchtern sie das politische Denken und heilen von der Eitelkeit. Die Bourgeoisie hat sich in ihren Freiheitsideen gefallen, aber die Freiheiten, die sie tatsächlich stiftete, erzeugte sie im Verfolg ihres Gewinnstrebens, denn sie »reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktions-Instrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Civilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waaren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigen Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt.« (»Manifest«) Soviel zur Frage Fanta oder Fatwa. Auch der Preis dieser Befreiung ist klar zu bestimmen. War einer, beispielsweise in der Autokratie des Irak, den Launen des Herrschers und seiner Büttel unterworfen, wird ihn, nach dem Systemwechsel, vermutlich ein Ausbeuter unterwerfen, für den er eine besonders billige Ware auf dem Weltarbeitsmarkt ist. Viele Hiesige halten das für einen schlechten Tausch, aber sehr wenige von ihnen haben die Todesangst vor den Häschern zu schmecken bekommen. Die Angst davor, die nächste Miete nicht zahlen zu können, kennen sie; ich will sie nicht abtun.

Ivo Bozic meint, »ohne über Freiheit zu reden, über Befreiung, ohne über Emanzipation zu reden, ergibt es keinen Sinn, linke Perspektiven zu diskutieren« (Jungle World 47/04). Das mag sein, aber welchen Sinn ergeben denn »Freiheit« und »Befreiung« in der linken Perspektivendiskussion? Das sind bloß Wörter. Die Gruppe Sinistra! (Jungle World 48/04) will gerade daraus, dass es bloß Wörter sind, Nutzen ziehen. Deren »Unterbestimmtheit« sei ein Vorteil, weil so »eine Artikulation innerhalb verschiedener Kontexte« möglich wäre. »Ein Begriff ist nur so gut wie seine Verwendung.« Das klingt wie falsch verstandener Wittgenstein.

Selbstverständlich ist die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch. Aber dieser Gebrauch bleibt uns nicht freigestellt, sondern folgt der gesellschaftlichen Praxis des jeweiligen Sprachspiels. Hierin sehe man die häufig verkannte materialistische Seite eines Philosophen, der Geschmack an der Herbheit des Lebens fand. Sprachspiele ändern sich, doch selbst wenn sie es tun, stellten Emanzipation und Befreiung sich nicht allein deshalb ein, weil sie ein Frankfurter Theoriezirkel beim Namen gerufen hat. Das Hantieren mit unterbestimmten Begriffen und ihr eifriges Umfüllen in immer neue Schläuche bleibt solange ein eitles Unterfangen, solange sich nicht die Verhältnisse ändern. Noch einmal Marx: »Man spricht von Ideen, welche eine ganze Gesellschaft revolutioniren; man spricht damit nur die Thatsache aus, daß sich innerhalb der alten Gesellschaft die Elemente einer neuen gebildet haben.« Sich zu sensibilisieren für die Heraufkunft dieser neuen Elemente, scheint mir eine Perspektive, feministisch-antipatriarchal-antirassistisch-antideutsches Kontext-Hopping bloß eine linke. Man redet halt gern unter Linken. Aber dass von »Freiheit« und »Emanzipation« geredet wird, ist sicheres Anzeichen von Unfreiheit und von eitler Weltverbesserei.

Bozic und Sinistra! wissen noch nicht recht, was sie wollen. Sie sollten darüber nachdenken, was sie wollen können. Nicht, dass wir, wie noch Bossuet, Hegel und Marx, wüssten, welchen Gesetzen die Geschichte unterliegt, welcher Weg uns offen steht und an welche Grenzen wir andernfalls stoßen. Nicht, dass wir uns von einer Wirklichkeit, an die wir uns morgen wie an den Schemen eines Alptraums erinnern werden, einschüchtern lassen sollten. Aber es ist nichts als politische Eitelkeit, wähnt einer sich ein Weltenlenker, wenn er bloß mitgeschleift wird. Die Phantasie eines Fourier würde ich nie veralbern, doch ermüdet es mich, wenn Utopien langweiliger als die Wirklichkeit sind. Ich plädiere dafür, das Denken am Gegebenen zu schärfen.

Wer glaubt, über die Bedeutung der Wörter verfügen zu können, gaukelt sich bloß Freiheit vor. Wer hingegen den Sprachgebrauch untersucht, wird erkennen, dass die gewöhnlichen Wörter derart unterbestimmt sind, dass eine antipatriarchal-antideutsche Dekonstruktion gar nicht mehr vonnöten ist. Dass der »migrantische Passant« die ihn umgebenden Dinge, sagen wir mal fette Männer mit Glatze und Springerstiefeln, anders liest als der Szenentrampel, ist eine hilfreiche Feststellung von Sinistra! Und so liest eine Frau im Iran unter Umständen den Begriff »Zivilgesellschaft« anders als unsere Pfiffikusse, die ihn längst entlarvt haben. Ich bin auch schon Koreanern begegnet, die durch Habermas befreit wurden. Hätte ich sie über ihren Irrtum belehren sollen, nachdem sie auf Familie samt Patriarchen gepfiffen haben? Es hatten sich möglicherweise Elemente einer neuen Gesellschaft gebildet.

Diejenigen aber, die von »Freiheit« stets mit Verachtung sprechen und von »Befreiung« immer nur dann, wenn gerade wieder irgendwo ein Steinzeitstaat errichtet wird, sind nicht, wie sie selbst glauben, die Vorboten einer viel versprechenden Zukunft. Im Gegenteil west im Traditionskommunismus eine besonders üble Vergangenheit fort. Gerade dass sie genau zu wissen vorgeben, was sie wollen, macht es unglaubhaft, dass sie sich für die »neuen Elemente« sensibilisieren. Denn was wollen Jürgen Elsässer, Werner Pirker, und wie sie alle heißen? Da das bloße Wünschen und Wollen nicht hilft, könnte es uns gleichgültig sein. Aber Neugier ist erlaubt. Was mir gelegentlich von ihren Kampfschriften zugespielt wird, legt nahe, dass es die Marx’ sche »Weibergemeinschaft« nicht ist, was sie wollen. Jedenfalls Elsässer nicht, der Außenminister und Kanzler unstete Familienverhältnisse vorgeworfen hat.

Altbürgerliche Institutionen wie die Familie hochzuhalten, während sie im Begriff sind unterzugehen, hätte Marx reaktionär genannt. Ich nenne es nur typisch. Wenn sich der revolutionäre Dampf verzogen hat, wird sich zeigen, dass diese tapferen Kommunisten sich in einer gediegenen Erziehungsdiktatur ganz wohl fühlten. Ihrer Kritik der bürgerlichen Freiheit haftet die Sehnsucht nach Unfreiheit an. Daher der verklärte Blick auf den Saddam’ schen Totalitarismus, daher die Sympathie für Haider. Vom gemeinen Kleinbürger unterscheidet sie nur ihr Kampf gegen das Kleinbürgertum. Aber selten gibt ein Kleinbürger zu, einer zu sein.

Montesquieu, der beste Psychologe der Despotie, notiert, er habe bei Galeerensklaven kein einziges unglückliches Gesicht gesehen. Sie besaßen vielleicht, noch vor Kant und Hegel, eine tiefe Einsicht in die Notwendigkeit, vielleicht schätzten sie es aber auch, riskanter Entscheidungen enthoben zu sein. So gab es viele glückliche Gesichter unter Hitler, Franco, Stalin, Mao. Nicht wenige Unterdrückte lieben ihre Unterdrücker. Sind sie also unterdrückt? Ich spreche nicht von Emanzipation, sondern vom Widerruf der freiwilligen Knechtschaft; ich will den sehen, der auf der Galeere nicht auch noch ins Fahrtenlied einstimmt, und den, der, freigelassen, nach ersten unsichern Schritten auf dem Kai, sich nicht sogleich in die Galeere zurückwünscht.