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Derrida

Nachruf. Als befände er sich wieder ganz am Anfang: »Leben lernen« lautete der Titel eines ausführlichen Interviews, das Jacques Derrida nur wenige Wochen vor seinem Tod Le Monde in Paris gewährte, und das sich posthum wie ein Manifest gegen den Tod liest. Es ist in den vorsichtigen Worten des Philosophen freilich nichts mehr von jener fundamentalen und rasenden Empörung spürbar, wie sie beispielsweise Camus – einer von Derridas Jugendgöttern – immer wieder angesichts der »blutigen Mathematik«, die über uns verhängt sei, erfasste. »Nein«, sagt Derrida, »ich habe niemals zu leben gelernt. Aber kein bisschen!«, und er beginnt eine Art Versteckspiel mit dem Tod. »Leben zu lernen, heißt doch, sterben zu lernen, das absolute Sterblichsein (ohne Heil, ohne Auferstehung oder Erlösung) in Rechnung ziehen und es sowohl für sich wie für andere anerkennen. Seit Platon ist das die unerbittliche Maxime: Philosophieren heißt, sterben zu lernen.«

In der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober hat er das Versteckspiel verloren gegeben. Derrida stirbt im Alter von 74 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Begonnen hat das Spiel am 15. Juli 1930 im algerischen El Biar, wo er als Kind sephardischer Juden geboren wird und früh am eigenen Leib zu spüren bekommt, was er er später den »Ausschluss des Anderen« nennen wird. Er ist zwölf Jahre alt und hat begonnen, sich durch die Werke von Nietzsche, Rousseau, Camus und Gide zu lesen, als ein Erlass des Vichy-Regimes ihm den Schulbesuch untersagt. Später sind es die angesehensten Bildungstätten wie die Ecole Normale Supérieure in Paris, die ihm 1952 als Studierendem und Anfang der Sechziger als Lehrendem offen stehen.

Was ihn in seinen Schriften umtreibt, ist die Idee, die Dinge dieser Welt nicht zu naturalisieren. An der komplizierten Architektur des Dekonstruktivismus haben viele mitgewirkt, Derrida jedoch hat das Fundament geschaffen und sich den Titel »Vater des Dekonstruktivismus« geholt, sich aber auch den Schmähtitel des philosophischen »Scharlatan« eingefangen. Seine Werke, darunter »Grammatologie«, »Die Schrift und die Differenz«, »Marx’ Gespenster«, begründen seinen Ruhm vor allem in den USA, aber sie polarisieren zugleich. Über die Rezeption seiner Werke sagte Derrida kurz vor seinem Tod: »In dem Augenblick, in dem ich ›mein‹ Buch veröffentlichen lasse, erscheine und verschwinde ich wie jenes unbelehrbare Gespenst, das niemals zu leben gelernt hat. Die Spur, die ich zurücklasse, bezeichnet zugleich meinen Tod, gleichgültig ob er noch bevorsteht oder ob er schon eingetreten ist, und die Hoffnung, dass es mich überlebt. Das ist keine Sehnsucht nach Unsterblichkeit, sondern liegt in der Natur der Sache. Ich lasse ein Stück Papier zurück, ich gehe weg, ich sterbe: Unmöglich, dieser Struktur zu entkommen, die in meinem Leben immer gleich bleibt. Jedesmal, wenn ich etwas aus der Hand gebe, sehe ich meinen Tod in der Schrift. Extreme Prüfung: Man begibt sich einer Sache, ohne zu wissen, wem sie anvertraut wird. Wer wird erben, und wann? Wird es überhaupt Erben geben? Das ist eine Frage, die sich heute deutlicher stellt als jemals zuvor. Sie beschäftigt mich unentwegt.«

Unsere intellektuellen Männer

Late Night. Wir erinnern uns: Weil die Quote den Sat.1-Bossen einfach zu niedrig war, wurde Anke Engelke am 5. Oktober nach einem fünf Monate währenden Late-Night-Experiment gefeuert. Bis zum 21. Oktober muss die Komikerin, die zuletzt nur noch 600 000 Zuschauer komisch fanden, noch durchhalten. Dann rücken auf den Sendeplatz erst mal Serien wie »Helicops«, denn ein schlüssiges Nachfolgekonzept hat der Sender nicht. »Schade, dass die Sendung nicht mehr Zuschauern Spaß gemacht hat«, sagte die Entertainerin dazu, und fertig.

Ein bisschen wenig, fand die Kulturabteilung der Zeitung Bild und versuchte daher eine Analyse, die auch gendertheoretische Fragen miteinbezog. »Haben Frauen bei Late-Night-Shows keine Chance?«, wurde überlegt und kritisch angemerkt: »Statt zynischer Tagesaufbereitung bot Anke Engelke nur kicherndes, harmloses Mädchengeplauder. Damit kann frau beim klassischen Late-Night-Publikum (›Intellektuelle Männer‹) nicht landen.« Ganz genau.

Aber wie äußern sich unsere Intellektuellen jetzt zu dem Late-Night-Desaster? Rudolf F. Thomas konstatiert in Bild: »Es kann nur einen geben, und der heißt Harald Schmidt!« Oliver Muth geht die Sache ebenfalls in Bild dialektisch an und demonstriert ganz nebenbei auch noch, wie das Witzemachen geht, wenn man einen ran lässt, der wirklich was davon versteht. »Wir brauchen Dirty Harry, und er braucht das Publikum«, sagt Muth, und weiter: »Sonst lässt er sich vor Langeweile noch die Haare bis zum Hintern wachsen.« Ein echter Knaller. Doch es sieht leider, leider nicht danach aus, als würden die kühnen Wünsche unserer vor Witz und Geist nur so sprühenden Intellektuellen irgendwann Wirklichkeit werden, denn Harald Schmidt verlustiert sich ja mittlerweile in irgendwelchen billigen Theatern und denkt nicht im Traum daran, dem Ruf der Bild-Leser zu folgen und sich zurück ins Late-Night-Studio zu begeben. Unserem anspruchsvollen Late-Night-Publikum (»Intellektuelle Männer«) bleibt deshalb wohl nichts anderes übrig, als nachts was richtig Gutes zu lesen. Z.B. das Feuilleton von Bild.

Chefsprecher-Abgang

Tagesschau. Er war der unauffälligste Sprecher, den die Tagesschau je hatte, und entsprach damit ziemlich genau dem Ideal des Nachrichtenvorlesers dieser großen deutschen Fernsehinstitution der ARD. Es gab um ihn keine Gerüchte, ob er schwul oder geliftet sei, und Ambitionen auf eine Karriere in Hollywood hatte er auch nicht. 30 Jahre hat Jo Brauner, der zuletzt das Amt des Chefsprechers innehatte, die Nachrichten in der Tagesschau gelesen und sich am vergangenen Samstagabend von seinem Publikum verabschiedet. »Das war’s«, hat er am Ende der Sendung gesagt, Blumen und Applaus seiner Kollegen entgegengenommen, und dann taa, ta, ta, ta, taa, war die Tagesschau vorbei.

Brauner, der 1945 in Breslau geboren wurde und in Thüringen aufwuchs, ging 1958 in den Westen und musste sich von seiner Mutter und den Geschwistern in der DDR trennen. Die in Zeiten des Kalten Krieges üblichen Kommunikationsprobleme soll Brauner auf seine Art gelöst haben, indem er seiner Familie über die Tagesschau ganz unauffällig versteckte Botschaften hat zukommen lassen.