London calling

Für Linksradikale, die in soziale Bewegungen intervenieren wollen, lohnt es sich, zum Europäischen Sozialforum zu fahren. von nathanael kuck

Im Januar 2001 fand zum ersten Mal parallel zum World Economic Forum in Davos ein Weltsozialforum (WSF) statt. Jenseits bloßer Gegenmobilisierungen sollte ein Raum geschaffen werden, in dem die globalisierungskritische Bewegung eigene Inhalte auf die Agenda setzten konnte.

Im Jahr darauf traf sich zum ersten Mal der europäische Ableger des WSF in Florenz. Begünstigt von der nach wie vor stärksten sozialen Bewegung Europas konnte auf diesem ersten Jahrmarkt der europäischen Linken eine Dominanz etatistischer Gruppen noch weitgehend verhindert werden. Jedoch wurde beim zweiten Europäischen Sozialforum (ESF) in Paris die Tendenz zur Bürokratisierung und Institutionalisierung unübersehbar. Attac nahm bei der Vorbereitung wie während des Forums großen Raum ein, und die penetrante Parolendrescherei der Trotzkisten war gegenwärtiger. Letztgenannte werden dieses Jahr in London mit der Socialist Workers Party noch sichtbarer sein. Als Reaktion auf die Institutionalisierung und die Versuche der Vereinnahmung gab es jedoch auch immer linksradikale Alternativ- oder Ergänzungsforen.

Weder das WSF noch das ESF konnten bisher eine einigende politische Perspektive bieten. Dies steht aber auch nicht im Vordergrund. Die Strategie der Homogenisierung sozialer Bewegungen ist in der Geschichte der Linken schon so oft gescheitert und in staatlichen Verwaltungsbüros geendet, dass sie heute nur noch von trotzkistischen Politsekten offen vertreten wird.

Vielmehr geht es bei den Sozialforen um die identitäre Selbstvergewisserung, dass »wir« ganz viele sind, die gegen die herrschende Weltordnung einstehen. Dieser Faktor dürfte gerade jetzt eine bedeutende Rolle spielen, da die letzte größere Gipfelmobilisierung, die diese massenpsychologische Funktion erfüllt hat, schon eine Weile her ist. Zum anderen bietet das ESF unterschiedlichen Aktivisten die Gelegenheit, sich mit Leuten aus anderen Teilen Europas auszutauschen, die in ähnlichen Bereichen tätig sind.

Das ist auch eine gute Gelegenheit für die radikale Linke. Der voriges Jahr begonnene Versuch einer stärkeren Zusammenarbeit linksradikaler Gruppierungen soll in London fortgesetzt werden. In Paris wurde deutlich, dass soziale Aneignung, vergleichbar mit der Kampagne »Berlin umsonst«, einen wichtigen Stellenwert für das Handeln linksradikaler Gruppen von Italien bis Skandinavien einnimmt. Auch alternative Medienprojekte profitierten vom Austausch. Migration schien das Thema zu sein, das Gruppen weit über das linksradikale Spektrum hinaus erreichen konnte und am ehesten dazu in der Lage wäre, Ausgangspunkt für eine Bewegung gegen das aktuelle Projekt einer »Festung Europa« zu sein.

Entscheidend beim ESF sind also nicht die Massenveranstaltungen und das Schaulaufen der alternativen Politprominenz, auch die unüberschaubare Vielfalt an Workshops und Seminaren ist eher interessantes Beiwerk. Vielmehr erfordern es die Bedingungen eines nicht länger nationalen Herrschaftsprojekts, dass sich auch die sozialen Bewegungen der verschiedenen Regionen austauschen, und dafür bietet das ESF einen Rahmen.

Die Voraussetzung dafür, dass sich auch Linksradikale für ein Treffen wie das ESF interessieren, ist ein bewegungsinterventionistischer Ansatz. Das heißt, inhaltlich wie durch Aktionen in soziale Bewegungen eingreifen zu wollen und sich nicht in Abgrenzung zu ihnen zu definieren. Dieser Ansatz muss keineswegs ein jämmerliches Anbiedern an die Massen à la Linksruck bedeuten, sondern beinhaltet vielmehr, auch verkürzter Kapitalismuskritik und parteiförmigen Organisationsstrukturen entgegenzutreten. Dabei darf jedoch nie aus den Augen verloren werden, dass linksradikale Positionen nur dann gesellschaftliche Relevanz erlangen können, wenn sie Teil einer Bewegung sind, die über studentische Zirkel hinausgeht.

Wer sich lieber an der Reinheit der eigenen emanzipatorischen Position ergötzt und einer gewollten Selbstmarginalisierung frönt, fährt sinnvollerweise nicht nach London. Für andere Linke kann sich das ESF auch dieses Jahr wieder lohnen. Nicht weil Toni Negri sein neues Buch vorstellt, sondern viel eher, um mit skandinavischen Genossen über Schwarzfahraktionen zu diskutieren oder sich mit den Disobbedienti über ihr Medienprojekt Global TV auszutauschen.