Familiengruft mit Gummibaum

Wie der Fernsehkrimi die Düsternis der Nachkriegszeit konserviert. von jan distelmeyer

Zbynek Brynych hätte gern mehr Kinofilme gedreht. »Das Fernsehformat«, meinte er, »bleibt immer dieselbe Scheiße – in den Ecken ist es rund.« Bis zu seinem Tod 1995 jedoch war der gebürtige Tscheche selbst als viel beschäftigter Fernsehregisseur für jene Bilder mitverantwortlich, die sich die öffentlich-rechtlichen Anstalten von ihrem Land machten. Besonders auffällig inszenierte Brynych seine zweite Heimat in jenen Krimiserien, die als die erfolgreichsten Klassiker der deutschen Fernsehgeschichte so oft wiederholt und als »Kult« angepriesen worden sind, dass es schwer fällt, sie noch eines Blickes zu würdigen: »Derrick« und »Der Kommissar«.

Auch in diesem Jahr werden beide Serien seit Monaten on heavy rotation durch ZDF und 3Sat geschickt. Kein Wochenende, das nicht freitagnachmittags von Oberinspektor Derrick (ZDF) eingeläutet und sonntagnachts von Kommissar Keller (3Sat) verabschiedet wird. Es ist, wie es war – und zwar noch mindestens bis Sommer 2006.

Zbynek Brynych zufolge könnte dieser Fluch der Wiederholung jedoch zugleich ein Segen sein. »Ich habe die Ansicht«, erklärte er in einem seiner letzten Interviews, »wenn man in 50 Jahren etwas über die Zeit vor 50 Jahren erfahren will, dann wird man das am ehesten durch die Krimis erfahren.« Vielleicht wäre es ja eine gewisse Genugtuung für diesen fast vergessenen Regisseur, in seinem Sinne zu fragen, was da eigentlich Woche für Woche wiederholt wird. Was für ein Deutschland zeigt sich da? Vor allem »Der Kommissar«, die wohl merkwürdigste bundesdeutsche Fernsehserie, zu der Zbynek Brynych einige der merkwürdigsten Folgen beigetragen hat, wirft mehr Fragen auf, als das intuitive Wissen über den »Derrick«-Vorläufer an Antworten immer schon parat hat.

Der »Kommissar«, das waren von 1969 bis 1976 in 97 Folgen eigentlich immer sechs bis sieben Personen. Erik Ode stand als Herbert Keller vier Assistenten vor: Günther Schramm war der smarte Pfeifenraucher Walter Grabert, nach Keller ganz klar die erste Geige. Fritz Wepper gab den damals noch sehr kleinen Harry Klein als angelegentlichen Stenz, bis er 1974 ganz offiziell die Serie wechselte (»Ich geh’ ja morgen zu Oberinspektor Derrick«), und von seinem Bruder Elmar Wepper als Assistentenbruder Erwin Klein ersetzt wurde. Den Vierten und Unangenehmsten spielte Reinhard Glemnitz, dessen Robert Heines als spießig-scharfer Beamter (»Wollen wir ihn nicht verhaften, Chef?!«) seine Pflicht tat.

Im Büro hielt Helma Seitz alias Fräulein Rehbein alias Rehbein alias Rehbeinchen alias das Rehbeinchen Cognac und Kommentare bereit, die sich der Chef manchmal sogar anhörte. Und dann war da noch die von Emely Reuer gespielte Helga Lauer; eigentlich ebenfalls Assistentin, in der Hierarchie jedoch ziemlich weit unten und nur bis Folge 26 im Team, aus dem sie dann ohne Grund und Aufsehen verschwand. Sexismus blieb im »Kommissar« immer Kavaliers- und Ehrensache.

Bis heute ist Kritik an der paternalistischen Biederkeit der von Herbert Reinecker verfassten Drehbücher und an dem – so die Journalistin Birgit Lahann – auf »eigenwitzige Weise glücklos« erscheinenden »Bemühen des Autors um Sozialkritik« die eine Seite der »Kommissar«-Rezeption. Die andere betont den großen Erfolg dieser »Mutter der Krimiserien« (ZDF) und verteidigt – wie Gerald Grote in »Der Kommissar – Eine Fernsehserie und ihre Folgen« – die »ruhige bis betuliche Fahndungsarbeit« als Katalysator der »Aussagekraft der Handlungsebenen«. Man mache es sich zu einfach, schreibt Grote, »einen der zugkräftigsten Serienhelden der deutschen Fernsehgeschichte als ›Kripo-Biedermann‹ (Spiegel) zu titulieren«. Immerhin seien »sämtliche Krimireihen in ihrer Grundstruktur« immer »systemkonform« sowie »dem Heile-Welt-Schema verhaftet und dem Happy End verpflichtet«.

Das eigentlich Faszinierende dieser Serie ist jedoch vielleicht gerade, wie düster der »Kommissar« zwischen solchen Erklärungsversuchen steht, wie unwirtlich hier jenes »System« erscheint und wie komplett unvorstellbar so etwas wie eine »heile Welt« ist.

Ganz egal, was man uns vom Wirtschaftswunder der fünfziger und sechziger Jahre, vom Wohlstand für alle erzählt hat: In dem Deutschland, in dem der »Kommissar« wirkte, kann es kaum stattgefunden haben. Hier kommen wir in Gegenden, in denen der Krieg gerade erst überstanden scheint.

Einander fremde Rentner teilen sich 1970 wie zu Kriegszeiten eine Dreizimmerwohnung – man weiß nichts voneinander, bis eine Frau ermordet wird. Ob die Verstorbene vielleicht von Prostitution gelebt habe: »Wieso denn, dann wär’s ihr doch hervorragend gegangen. Die hat kein Geld gehabt!«

Eine frühere Folge zeigt missgünstige Nachbarschaft in einer heruntergekommenen Münchner Mietskaserne, in die der bürgerlichste Bewohner abends mit seinem Hausierer-Handkarren – wie vom Schwarzmarkt – heimkehrt. Wolfgang Staudte inszenierte in »… wie die Wölfe« – dem zweiten seiner elf »Kommissar«-Filme – eine Welt unspektakulärer Armut; eine Oma wird erschlagen, die Hausbewohner reißen sich ihren Lottogewinn von 3 000 Mark unter den Nagel. Der alte, mittellose Kellner einer anderen Folge weiß, warum man so etwas tun könnte: »Wissen Sie, wenn man alt wird, ist Geld die einzige Hilfe.« Nicht das Verbrechen ist das Schlimmste, eher schon sind es die Verhältnisse, die Menschen über ein Mordopfer denken lassen: Die hat’s wenigstens hinter sich.

Während Derrick später immer wieder dieselben Villen in München-Grünwald heimsuchen sollte, ging es beim Kommissar um ein anderes München ohne Farbe. In den schwarzweißen Episoden wird ein Wirt von den »Ratten der Großstadt« wegen Schnaps erschlagen, ein paar Rentner prügeln als Zbynek Brynychs »Die Schrecklichen« einen Passanten zu Tode. Der Mittelstand verarmt, stiehlt, mordet und wird in der »Nacht mit Lansky« von Denunzianten in den Dreck getrieben. Leichen liegen auf Müllkippen, Lumpensammler ziehen umher, reichere Herrn kommen (selten schuldlos) in »schlechten Gegenden« um. Jeder ist für eine Bluttat gut, irgendein schäbiges Motiv wird sich schon finden.

Der Kommissar musste also gar nicht unbedingt in die Niederungen der Jugendkultur hinabsteigen wie in »Tod eines Hippiemädchens«, »Als die Blumen Trauer trugen« oder in Zbynek Brynychs »Der Papierblumenmörder«. Die Kamera muss gar nicht erst zur Musik von »Joker 5« im »Hot Club« aus dem Stativ geraten, um anzuzeigen, dass etwas nicht in Ordnung war. Nicht nur die Studenten, Hippies, Gammler und sonstige Verdächtige waren gefährlich, sondern alle. Kaputte Familien überall, wie in »Lagankes Verwandte« oder »Der Mord an Frau Klett«, in dem sich Vadim Glowna nach dem Tod seiner Mutter zuerst dafür interessiert, was es an Habe zu verscherbeln gibt. Derweil bietet sich sein arbeitsloser Vater anderen Familien auf dem Parkplatz als Zooführer und Clown an, ahmt verzweifelt den Schrei eines Esels nach, wofür die Kamera wie bei Fellini in Großaufnahme auf das Gesicht des armen Hanswurst hält.

In solchen Momenten ist der »Kommissar« schier unerträglich. Dem moralisch richtenden Blick, der das Elend nicht nur erkennt und anmahnt, sondern fasziniert anstarrt, wird nichts entgegengesetzt. Er braucht das Unglück, kann ohne es nicht existieren. Erik Ode hat sich oft über die Humorlosigkeit von Herbert Reineckers Drehbüchern beklagt; er habe diese Vaterfigur Keller »so tierisch ernst« nicht gewollt. Das Ergebnis blieb ein auch von seinen Untergebenen letztlich allein gelassener Patriarch, ein Kommissarkönig mit Lederhut, der in einem seltsam verwahrlosten Deutschland Sinnlosigkeiten und Schadensfälle konstatierte. »Ja, es gibt solche Familien«, sagt er einmal, »auseinandergefallen, keine Beziehung mehr. Warum das so ist, woher das kommt, da hab ich auch keine Ahnung.«

Wenn der »Kommissar«, wie oft geschrieben worden ist, angesichts »68er Chaos« und bürgerlicher Verunsicherung wieder Ordnung stiften sollte, dann fragt sich nur, welche Ordnung hier eigentlich versprochen wurde. Ein Bild jedenfalls – jenseits der Kleidung und der Hierarchie der Polizisten – bekommt sie nicht. Und weil nicht selten das Nachkriegsdeutschland der immer noch schäbigen Altbauten und der noch nicht im Mittelstand Angekommenen auf Jugend und Musik der Siebziger stößt, scheint es, als verbänden sich hier alte Schuld mit neuer Angst.

Schon die Edgar-Wallace-Kinofilme hatten zuvor auf ihre Art – mit Kellergewölben und Heimsuchungen durch Sünden aus der Vergangenheit – dem postfaschistischen Deutschland Geschichten von Verdrängung und Vergangenheitsbewältigung erzählt. Im »Kommissar« wurde die Schwarzweißästhetik weitergeführt, doch das Erleichterung schaffende Bild eines Phantasie-England mitsamt Scotland Yard, Eddie-Arent-Humor und Boy-meets-girl-Dreingabe hatte sich in rein bundesdeutsche Tristesse verwandelt, in dem die Familiengruft direkt im Wohnzimmer lag. Wenn Bedrückung das prägende Prinzip dieser Serie gewesen ist, dann oft auf zweifache Weise: Als Angst (vor allem) der Väter vor der eigenen Vergangenheit und zugleich vor dem, was die Kinder ihnen nun antun könnten. Wie sollte aus dieser Haltung, wenn es denn um Ordnung ging, irgendetwas Gutes entstehen?

Das Erstaunlichste ist jedoch, in welchem Maße das Publikum diese Düsternis, die sich auf farbigere Weise in »Derrick« fortsetzen sollte, mochte. Wie konnte diese tristesse nationale so geliebt werden? Quoten von 71 bis 74 Prozent wurden in den besten Jahren verzeichnet. Mehr als 30 Millionen Menschen sollen dem »Kommissar« Folge für Folge zugesehen haben, und wer süchtig geworden war, fand in »Kommissar«-Hörspielen und -Romanen ein Methadonprogramm.

Es mag sein, dass der »Kommissar« deshalb geliebt wurde, weil er den Ruf nach Ordnung repräsentierte. Vielleicht aber wurde der »Kommissar« auch gar nicht geliebt, sondern gebraucht. Möglicherweise neigen wir dazu, das damalige Publikum zu unterschätzen, oder sehen nicht, dass die Düsternis des Aufeinandertreffens von alter Schuld und neuer Angst in der BRD der Notstandsgesetzgebung so spürbar gewesen sein mag, dass die Betroffenen genau das im Fernsehen (wieder-)sehen wollten.

»Das Verbrechen«, sagt Kommissar Keller in »Spur von kleinen Füßen«, »ist durchaus keine Ausnahmeerscheinung, es ist permanent.«