Der Griff in die Mottenkiste

In einem neuen Buch über die Krise des Sozialstaats greift der Ökonom Horst Afheldt auf vermeintliche Allheilmittel von gestern zurück. von philipp steglich

Welche Zeitung man aufschlägt, in welche Sendung man hineinzappt, egal. Alle sagen: Wir müssen den Gürtel enger, haben über unsere Verhältnisse, es gibt keine Alternative, Leistung muss sich wieder, durch Deutschland muss, die Reformen sind überfällig. Puuh. Für Leser, die diese immer und immer wieder vorgetragenen Beschwörungsformeln vorgeblicher Realpolitiker nicht mehr hören können, hat der Wirtschaftswissenschaftler Horst Afheldt sein neues Buch geschrieben. Der Autor war Mitarbeiter am Starnberger »Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt« und beschäftigt sich seit langem mit den Entwicklungsproblemen der Weltwirtschaft. In seinem Buch »Wirtschaft, die arm macht. Vom Sozialstaat zur gespaltenen Gesellschaft«, das Ende letzten Jahres erschienen ist, geht er gegen die gängigen neoliberalen Worthülsen, Heilsversprechen und Reformvorschläge vor.

Das höchste Ziel der »Reformer« ist möglichst viel »Wachstum«, denn: »Wachstum schafft Arbeitsplätze.« Mitnichten, sagt Afheldt und belegt anhand der preisbereinigten Wachstumskurve der BRD ab 1950, dass ein exponentielles Wirtschaftswachstum gar nicht erreicht werden kann. Vielmehr ist nur eine lineare Steigerung möglich: »Lineares Wachstum bedeutet, dass jedes Jahr (etwa) die gleiche Summe zum Sozialprodukt hinzukommt. Gemessen am seit mehr als fünfzig Jahren kontinuierlich jedes Jahr wachsenden Sozialprodukt wird diese Zusatz-Summe aber prozentual immer kleiner. (…) Für die ersten zehn Jahre des neuen Jahrtausends wird das Wachstum der Wirtschaft der BRD nach demselben Gesetz des linearen Wachstums nur noch 1,6 Prozent per Jahr betragen. Dieser Durchschnitt des Jahreswachstums über die kommenden Jahre liegt nach allen bisherigen Erfahrungen fest.« Dies gelte nicht allein für die BRD, sondern auch für andere »frühindustrialisierte« mitteleuropäische Länder, deren Wachstumskurven ganz ähnlich zur bundesdeutschen verlaufen. Dabei sei das Ausbleiben exponentiellen Wachstums auch ein Glück, denn sonst hätte sich die ökologische Katastrophe schon längst ereignet.

Wenn aber die Konjunktur die erforderlichen Arbeitsplätze nicht schaffen kann, muss dies der weltweite Handel tun. Jedoch: »Arbeit ist ein Kostenfaktor. Und Minimierung aller Kosten durch Freihandel ist das Versprechen des Freihandels. Gerade weil der Freihandel das, was er hier verspricht, auch hält, sollte es nicht überraschen, dass in den OECD-Nationen mit ihrem höheren Lebensstandard durch höhere Löhne und Sozialleistungen seit der schnellen Ausdehnung des Welthandels schon viele Menschen aus dem Weltmarkt herausgefallen und die Arbeitslosenzahlen drastisch gestiegen sind.«

Auch die Steuerentlastung der Unternehmen führe nicht automatisch zu mehr Beschäftigung, denn seit ca. 1970 würden die Unternehmer mehr und mehr entlastet und die Lohnabhängigen belastet. Seit dieser Zeit gibt es in der BRD keine Vollbeschäftigung mehr.

Durch die Verlagerung der Lasten auf die schlechter verdienende Bevölkerungsmehrheit und den Ruin des Staates und der sozialen Sicherungssysteme geht natürlich alles den Bach runter. »Die öffentlichen Bibliotheken, Parks, Spielplätze, Schwimmbäder, Kindergärten oder Goethe-Institute, die in den siebziger Jahren gebaut wurden, werden heute geschlossen oder nur noch in beschränktem Umfang weiter geführt.«

Problematischer ist die Heranziehung eines seiner Zeugen: Gern zitiert Afheldt den Autor Meinhard Miegel und dessen Buch »Die deformierte Gesellschaft«. Miegel ist ehemaliger Mitarbeiter des CDU-Politikers Kurt Biedenkopf und jetzt Sprecher des »BürgerKonvents«, einer wirtschaftsfreundlichen Organisation, die neoliberalen Ideen folgt und dennoch die autoritären Bedürfnisse ihrer Mitglieder nicht vernachlässigt wissen möchte (Jungle World 23/2003). Dass Afheldt hier einen dubiosen Charakter, der genau die von ihm verurteilte Politik á la »den Gürtel enger schnallen« verfolgt, als Kronzeugen anführt, ist ein deutlicher Mangel des Buches.

Kritik ist auch angebracht, wenn Afheldt den Sozialstaat der siebziger Jahre als leuchtendes Paradies und Gegenentwurf zum jetzigen Zustand heranzieht. Denn der so genannte Sozialstaat ist einerseits in der Regel durch Zwang bestimmt und dient andererseits in den entwickelten Hochlohnländern der möglichst effektiven Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft. Genauso wie das Lob auf Ludwig Erhards Fiktion vom »Wohlstand für alle« entbehrt diese Verklärung früherer Zeiten der Kritik.

Afheldts Lösungsvorschläge für Wege aus der Krise, die er allesamt auch ausführlich diskutiert, sind: Um den vorhandenen Reichtum besser zu verteilen und um eine Binnen-Nachfrage zu schaffen, müssten die Soziallasten von den Arbeitsverhältnissen weg, »auf die von allen Bürgern getragenen Steuern« verlagert und die Steuern auf abhängige Beschäftigung praktisch halbiert, die auf Unternehmen verdoppelt werden. Damit wäre dann wieder das Verhältnis der siebziger Jahre hergestellt. Das »wäre das Ende der Herrschaft des ungeregelten, schrankenlosen Kapitalismus und der späte Sieg von Erhards ›rheinischem Kapitalismus‹. Soll man sich wirklich so ein ehrgeiziges Ziel setzen?« Oder nicht doch lieber noch eine Tasse Tee trinken?

Es ist ein durchgängiges Merkmal dieses Buches, dass der Autor die durchaus stichhaltige Argumentation, die er mühselig aufbaut, am Ende regelmäßig mit dem Hintern wieder einreißt.

Dabei ist das Problembewusstsein des Autors eigentlich außerordentlich scharf. Ausgiebig diskutiert er Vorschläge für eine »Bürgergesellschaft« auf Kapitalbasis und versucht zu ermitteln, wie Wohlstand am gerechtesten verteilt werden könnte. Und in welchem Verhältnis Marktmechanismen unter der Aufsicht des Staates funktionieren könnten. Das sind durchaus wichtige Überlegungen, die fernab der gängigen Vorstellungen, zumindest was die übliche deutsche Auseinandersetzung angeht, durchgespielt werden. Hier bereitet Afheldt gekonnt einen diffizilen Stoff auf. Dass die daraus abgeleiteten Forderungen nach keynesianischer Nachfragepolitik anstatt neoliberaler Angebotspolitik, die Einführung von Schutzzöllen und höheren Steuern in einer liberalisierten Welt kaum durchzusetzen sind, weiß auch Afheldt. Und vielleicht ahnt auch er, dass seine Antworten derzeit nur ungenügend ausfallen können.

Sein billiges Fazit versalzt einem dabei bedauerlicherweise die Lektüre noch nachträglich: »Nur, wenn es gelingen sollte, ein politisch handlungsfähiges Europa zu formen, das sich entschließt, den ›rheinischen Kapitalismus‹ wiederherzustellen, besteht eine Chance, das derzeitige, für den Wohlstand ineffiziente Wirtschaftssystem zu überwinden.«

Horst Afheldt: Wirtschaft, die arm macht. Vom Sozialstaat zur gespaltenen Gesellschaft. Kunstmann, München 2003, 240 S., 19,90 Euro.