Sleeper Cell

Hauptquartier, Meldung 3 258

Thanksgiving: Der Winter kommt mit klarer frischer Luft; der Himmel blau mit weißen Schaumwölkchen, in der Sonne ist es immer noch heiß, aber die Schatten sind tröstlich und kühl und belebend. Tage der Vollkommenheit.

Und dann fliegt der Präsident für zwei Stunden in den Irak. Tom Cruise kommt als letzter Samurai ins Kino. Es sind jetzt besondere Tage. Wir bereiten gerade das Rückgrat unserer Küche zu: Fond. Es gibt nichts Wichtigeres, erklärt Hannah unserem Überraschungsbesuch aus München, K9. Der gibt zu, sich auf salzige Dosenbrühe und kommerzielle Basen zu verlassen. Typisch K9. Dabei ist es so leicht: Röste ein paar Knochen an, brate Gemüse an, gib alles in einen großen Topf mit Wasser und reduziere, reduziere, reduziere. Wir machen im Spätherbst immer so viel Fond, dass wir einen Vorrat für den ganzen Winter haben.

Hannah öffnet das Küchenfenster.

Seit dem Thanksgiving-Ausflug des Präsidenten herrscht über Wonder Valley der aufgerissene Geruch der Wüste, die Helikopter-Routine hat sich verändert, sie fliegen nicht mehr niedrig, zart und in Formationen eine schöne aufregende Black-Hawks-Kette, sondern versprengt, nervös, in großer Höhe, mit einer Vorhut von tief fliegenden Apaches, die womöglich irgendwas untersuchen, was sich auf der Oberfläche verdächtig bewegt. Jeder Pseudo-Hillbilly ist für die jetzt ein Terrorist.

Damit wir uns nicht falsch verstehen, erkläre ich K9, der offenbar die Auflösung der Sleeper Cell vorbereitet: »Wir lieben den Journalismus. Es ist das einzige Leben, das wir wirklich kennen. Und das wollt ihr uns nehmen?«

K9 erklärt, wir stünden ganz oben auf der Abschussliste. Die Anti-Terror-Gesetze würden jetzt drastisch gegen Andersdenkende eingesetzt. K9 setzt eine Sonnenbrille auf. Es ist seine letzte Vorstellung. Wir spüren es. München hat entschieden. Sie wollen uns aus dem Blickfeld verschwinden lassen. Das Bundesbüro hat klare Instruktionen für den Umgang mit kritischen Stimmen herausgegeben. Opposition wird in Terror-Nähe gerückt. Das Bespitzeln nimmt zu. Zwischen kritischen Stimmen und mordenden »Terroristen« wird kein Unterschied gemacht.

Hannah wiederholt K9s letztes Wort: »Blickfeld«. Dann sagt sie was von »du Drecksbildergourmet« und »Rückkehr der Natur« und steckt K9 eine gezackte Klinge etwa einen Zentimeter tief ins rechte Auge. Die Netzhaut platzt. Das Auge hängt aus der Höhle. Irgendetwas rinnt über sein Gesicht. Es zwinkert noch wie nach einer schlechten Nachricht. Es stößt dann das, was noch von einem richtigen Auge da ist, heraus, wie rotes geädertes Eigelb. Bis die Augenhöhle leer ist. So muss es wohl aussehen, wenn das Blickfeld verschwindet. Die Augen, mit denen man sonst alles so schön sehen kann, triefen in Fäden über den Mund. Das ist alles.

Niemand sagt etwas. Außer K9, der vor Schmerzen jault und ins Nirgendwo stolpert.

»Schon klar«, ruft Hannah hinterher. »Man kann nicht jedem trauen.« Sie legt jetzt ihren Arm um meine Schulter. »Man kann noch nicht mal sich selber trauen.«

Hannah hat an der Uni zweihundert Jahre Kulturkampf untersucht. Sie müsste es eigentlich wissen. Macht Freiheit tatsächlich arm? Wie wichtig ist bei allem das Erscheinungsbild? Worauf beruht die Gewalt der Wirkungen? In welchem Sinn ist, was hier vermittelt wird, Politik?

Hannah wechselt jetzt im Tonfall zu ihrem Harvey-Keitel-»Reservoir-Dog«-Ding. Sie hat sich einen Zahnstocher in den Mund gesteckt und sagt: »Das Leben, das Leben, das Leben.« Dann macht sie eine kurze Pause. »Das Leben ist lang.«

»Sleeper Cell« erscheint als anonymer Kolumnenroman.