Unappetitlich, aber ehrlich

in die presse

Ein Arbeiter ist ein Arbeitsloser in einem freiwillig eingegangenen Lohnarbeitsverhältnis. Wird ihm dieses von seinem Vertragspartner aufgekündigt, hat er ein Problem, das als »Erwerbslosigkeit« verharmlost wird. Der Ausschluss vom gesellschaftlichen Reichtum hat nämlich unschöne Erscheinungen wie Hunger, Durst, Krankheit und vorzeitiges Ableben zur Folge.

Um das zu verhindern, organisiert der bürgerliche Staat die notwendig anfallende Armut. Denen, die noch im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten sind, pfändet er einen Teil ihres Lohnes und finanziert so die staatlichen Pflege-, Krankheits-, und Rentenversicherungen. Das nennt man »soziale Markwirtschaft«. Um diese vom medizinischen Fortschritt und von Florida-Rolf bedrohte Errungenschaft zu retten, schreit das Land nach Reformen. Roman Herzogs Vorschläge zur Reform des Sozialversicherungssystems, die dessen Abschaffung zum Ziel haben, befürwortet auch die Vorsitzende der CDU, Angela Merkel. Doch Norbert Blüm ist dagegen.

Da Meinungen in einer Demokratie nicht nur auf Parteiveranstaltungen gebildet werden, profitiert auch die Presse von dieser Auseinandersetzung. »Immer wenn Angela Merkel zu philosophieren beginnt, wird es originell. ›Der Kern der Gerechtigkeit ist Verlässlichkeit‹, sagt sie«, zitierte Norbert Blüm am Mittwoch vergangener Woche in der Süddeutschen Zeitung. Wenn der linke Flügel der CDU die deutsche Geschichte vergisst, wird es unappetitlich, aber grundehrlich. Blüms Entgegnung auf Merkel lautete: »Seit Jahrhunderten gilt als Kernsatz der Gerechtigkeit: ›Jedem das Seine.‹«

Aus seinem sozialen Gewissen keine Mördergrube machend, sucht auch der ehemalige Minister für Arbeit und Sozialordnung das Heil in der klassenvereinenden Gemeinschaft. »Jedem das Seine«: dem Arbeiter seine Angst vor der Arbeitslosigkeit, dem Angestellten seine Work-Life-Balance, dem Rentner sein kurzes Restleben, dem Kranken seine Rechnung, dem Gastarbeiter seinen Sprachkurs, dem Ausländer sein Ausland, der Frau ihren Herd, der Arbeits- und Sozialordnung ihren Sinnspruch.

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