Sleeper Cell

Hauptquartier, Meldung 3 249

Mein Arzt ist so um die 30, hat eine Stirnglatze und im Nacken zusammengebundenes Haar, er trägt eine Puma-Jogginghose, ein Prada-T-Shirt und ausgetretene Eighties-Skateboardschuhe.

»Mein Name ist Doktor Charles Ginsberg. Sind Sie glücklich bei uns?«

»Meine Zeit hier läuft bereits ab, Doc.«

»Wir lassen Sie gerne gehen.« Ginsberg zieht einen Kaugummi aus der Tasche und steckt ihn in seinen Mund.

»Fühlen Sie sich bereits erholt? Die Person, die Sie eingeliefert hat, ich glaube, sie heißt Hannah, ist jedenfalls überzeugt, Sie bräuchten ein bisschen Erholung …«

»… Es gibt immer irgendwelchen Ärger«, unterbreche ich ihn.

Ginsberg redet jetzt von Solidarität, Selbstverwirklichung, Leidenschaft, Ethik, authentischer Erfahrung.

Ich schenke ihm ein charmantes Lächeln und versuche es mit der sanften Tour:

»Natürlich gibt es bei mir das eine oder andere unvermeidliche Problem, und natürlich gibt es das Ausgebranntsein, den Verfall und den Tod und die vielen Fehler, die man im Leben begeht. Wenn ich an die letzten Monate zurückdenke, kann ich aber mit Sicherheit sagen: Ich weiss, dass es das Glück gibt. Ich bin glücklich und gesund.«

Ginsberg steht auf.

»Ich habe über Sie eine Mappe erstellen lassen und dazu hat meine Assistentin recherchiert, was die Welt so von Ihnen denkt. Da kommt ganz schön was zusammen.«

Er grinst feierlich.

»Ihre Arbeit wird u.a. als Metajournalismus bezeichnet, und zwar nicht von irgendwelchen Blättern. Gestern haben wir was in The Nation endeckt, da werden Sie so zitiert: ›Ich lebe die Wirklichkeit so intensiv, dass ich vor ihr fliehen muss, um zu überleben …‹«

»Entschuldigen Sie…« unterbrach ich. »Ich glaube, dass jedem, der sich mit meinem Fall beschäftigt hat, völlig klar ist, dass ich und mein System in eine Krise geraten sind und dass ich grobe Fehler gemacht habe. Auch was meine Kommentare in der Presse betrifft. Ich erwarte von Ihnen nicht, dass Sie mir endlos die Einzelheiten des Problems schildern, sondern mich interessiert mehr, dass Sie mir wenigstens ansatzweise die eine oder andere Lösungsmöglichkeit andeuten.«

Für Ginsberg signalisierte diese Erklärung einen eindeutigen Hilfeschrei.

Er lächelte:

»Ich glaube, wenn man ein Problem lösen will, besteht der erste Schritt darin, es einzugrenzen und seine Ursache zu erforschen.«

Schon wieder so ein hohler Satz, denke ich; er ist nicht nur hohl, sondern auch noch falsch. Denn die Ursachen sind natürlich in einer allgemeinen gesellschaftlichen Tendenz zu suchen, die keiner von uns zu ändern vermag. Dazu hat dieser Idiot offensichtlich nichts zu sagen.

»Die Abbildbarkeit von Realität in den Medien ist ein faszinierendes Thema, und ich bin froh, dass ich mit Ihnen in dieser Sache eng zusammenarbeiten kann.«

Eine Minute Schweigen.

»Doc, ich hab grosse Fehler gemacht. Ich musste dafür büssen. Können wir es dabei belassen?«

»Ich habe da so meine Mutmaßung darüber, was Ihre poetologischen Absichten gewesen sein mögen, ein solches Vorgehen zu wählen. Und ich würde darüber gerne heute Abend in unserer Free-Speech-Session im Serrano-Saal mehr erfahren.«

»Besten Dank«, sage ich. »Ich danke für ihre Ausführungen.«

Meine Flucht ist besiegelt.

»Sleeper Cell« erscheint als anonymer Kolumnenroman.