Gemeinsam alles besser wissen

Die Einrichtung eines einheitlichen europäischen Hochschulsystems kommt nur schleppend voran. Nationale Befindlichkeiten stören. von matthias becker

Mit »Habibi-Effekt« bezeichnen Hochschulpolitiker das, wovon ihre Regierungen träumen. Bashiruddin Yusuf Habibi, der ehemalige indonesische Staatspräsident, legte in Aachen sein Maschinenbaudiplom ab und förderte später ganz praktisch die Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland. Aber Länder wie Deutschland sind für ausländische Studierende nicht attraktiv, was handfeste wirtschaftliche Konkurrenznachteile bringt. Eine gemeinsame Bildungspolitik gilt als wichtige Voraussetzung für einen europäischen Arbeitsmarkt der Akademiker, der allerdings noch in weiter Ferne liegt.

Bereits vor fünf Jahren bekundeten die Bildungs- und Forschungsminister Frankreichs, Italiens, Deutschlands und Großbritanniens, zukünftig an einem »gemeinsamen europäischen Hochschulraum« arbeiten zu wollen, um dessen Attraktivität und vor allem die Konkurrenzfähigkeit auf dem Wissensmarkt zu erhöhen. Die wesentlichen Probleme seien mangelnde Vergleichbarkeit der Studienleistungen und zu wenig internationale Mobilität der Studenten. Das könne geändert werden, wenn künftig alle Studiengänge in Bachelor, für ein arbeitsmarkttaugliches, aber nur oberflächliches Studium, und in weiterführende Master aufgeteilt würden. Ein Jahr später schlossen sich auf einer Konferenz in Bologna 29 andere europäische Länder an Plänen an, viele der kleineren Länder taten das jedoch eher unwillig. Die »Wissensproduktion in Europa soll gestrafft und effektiviert und die Studienzeiten verkürzt werden«, sagt Vivienne Reding, in der Europäischen Kommission zuständig für Bildung und Kultur.

Auch die russische Regierung möchte am europäischen Prozess teilnehmen und hofft auf Wissenstransfer aus dem Westen, wenn ihre Studenten zahlreicher und ohne bürokratische Hemmnisse im Ausland studieren können. Mexiko und Brasilien werden ebenfalls beobachtende Delegationen zur europäischen Bildungsministerkonferenz am 18. und 19. September in Berlin schicken. Denn ob bald lateinamerikanische und russische Studenten weniger Schwierigkeiten haben werden, in Westeuropa zu studieren, wird auch dort beraten werden. Die Konferenz endet mit einem gemeinsamen Kommuniqué der Minister. Auch studentische Vertreter werden an der Konferenz teilnehmen, allerdings nicht an den entscheidenden Verhandlungen.

Offensichtlich ist es ein gewaltiger Aufwand, die Bildungssysteme so vieler Länder mit ihren zahlreichen verschiedenen Abschlüssen miteinander vergleichbar machen zu wollen. Wie verhält sich der französische Abschluss licencié zum isländischen Meisterapróf? Solche spannenden Fragen werden wohl eher nicht die Minister, sehr wohl aber die sie begleitenden Delegationen in Berlin beschäftigen. Noch herrscht in Europa ein institutionelles Gewirr, in dem Studenten, die im Ausland studieren wollen, der Entscheidungswillkür der Universitäten ausgeliefert sind, gelegentlich aber auch durchaus von den Unklarheiten profitieren und das ein oder andere Seminar überspringen können.

Die studentischen Leistungen werden immer öfter mit dem Punktesystem European Credit Transfer System (ECTS) gemessen, damit Studienleistungen und Abschlüsse zukünftig im europäischen Ausland unproblematisch anerkannt werden. Eine gemeinsame europäische Agentur zur Evaluation einzelner Studiengänge soll eingerichtet werden, wogegen es aber heftigen Widerstand gibt. Deutschland ist bei der Einführung des ECTS schon recht weit gekommen, im Gegensatz zu Ländern wie Portugal oder Spanien. Bis 2010 soll das zweigliedrige Hochschulsystem überall eingeführt und europaweite Vergleichbarkeit geschaffen sein. Bis dahin werden alle zwei Jahre auf einer Bildungsministerkonferenz die Fortschritte und Rückschläge diskutiert.

So auch an diesem Wochenende in Berlin. In der offiziellen Broschüre zur Konferenz wird mitgeteilt, dass es darum gehe, »die Veränderungsfurche zu vertiefen und nachhaltig auszubauen«. Oh Bürokratenlyrik des neuen Jahrtausends! Solche durchaus typischen Auslassungen verweisen auf das zentrale Problem des Bologna-Prozesses. Solange die Erklärungen unverbindlich sind, sind alle sich einig. Aber nach vier Jahren treten nationale Interessengegensätze hervor.

Anfang dieses Jahres erklärte beispielsweise eine englische Behörde, dass ein deutscher Bachelor nicht automatisch für ein weiterführendes Studium in Großbritannien qualifiziere. Die deutsche Seite reagierte gekränkt. Überhaupt zeigen die Briten sich reserviert gegenüber den europäischen Bestrebungen. Sie fordern »Vergleichbarkeit statt Vereinheitlichung« und wollen sich ihre universitären Standortvorteile nicht wegnehmen lassen. Großbritannien profitiert von seinen international beliebten einjährigen Master-Studiengängen, die möglicherweise nicht mit den zukünftigen europäischen Richtlinien vereinbar sind, die weitere zwei Jahre nach dem Bachelor vorsehen. Außerdem sollen in England bald reine Lehruniversitäten eingerichtet werden, die europäischen Standards nicht mehr genügen würden. Statt Europa peilen die britischen Hochschulen den lukrativen chinesischen Markt an. Lesley Wilson, Generalsekretärin des European University Association, des Zusammenschlusses der europäischen Hochschulrektoren, nannte die Bildungspolitik ihrer Regierung deshalb im Juni »provinziell bis zum Extrem«.

Dass die europäische Einigung in der Bildung so wenig vorankommt, liegt auch daran, dass die europäischen Regierungen unter dem Etikett »Bologna« durchaus verschiedene Dinge verkaufen. So werden europaweit die Mitbestimmungsrechte der Studierenden eingeschränkt und der universitäre Betrieb unmittelbar auf kommerzielle Interessen ausgerichtet, oft mit dem rhetorischen Verweis, dass man der europäischen Sache zuliebe nun leider nicht anders könne. Geht es aber um handfeste nationale Interessen, können die Regierungen durchaus auch anders.

Wie wenig bisher entbürokratisiert und angeglichen wurde, lässt sich ermessen, wenn man die vollmundigen, aber unverbindlichen Absichtserklärungen von Bologna an dem misst, was bisher realisiert worden ist. In Deutschland wurde das Punktesystem ECTS neben dem alten System zum Vergleich der studentischen Leistungen eingeführt, was das Chaos noch vergrößerte. Deutsche Hochschulen und Bundesländer benutzen das neue Punktesystem auch, um ihre Vorstellungen eines gestrafften und wirtschaftsnäheren Studiums durchzusetzen. »Der Bologna-Prozess wirkt auch zuhause«, freut sich Klaus Landfried, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz. Mittels des ECTS werden Semesterwochenstunden nach einem bestimmten Schlüssel in Kreditpunkte umgewandelt. »Das ist nur eine scheinbare Objektivierung«, kritisiert Bastian Gronloh, der Pressesprecher des Europäischen Bildungsforums, das sich zur selben Zeit wie die offizielle Konferenz in Berlin trifft. Dem tatsächlichen Arbeitsaufwand der Studenten werde nicht Rechnung getragen.

Ohnehin ist die Vergleichbarkeit der Studienleistungen nur ein Teil des Problems. Entscheidender ist die finanzielle Ausstattung der Studenten. Besonders Studenten aus osteuropäischen Ländern können sich ein Auslandsstudium selten leisten. Darauf allerdings haben die Bildungsministerkonferenzen gar keinen direkten Einfluss, ebenso wenig wie auf eines der wichtigsten Probleme von Studierenden im Ausland: Visapflicht und Aufenthaltsrecht. Deutsche Bildungspolitiker fordern deshalb schon seit Jahren, dass das Zuwanderungsgesetz endlich verabschiedet wird.

Bisher ist es mit der europäischen Angleichung nicht weit gekommen. Bei den Diskussionen am Wochenende wird es hinter verschlossenen Türen zur Sache gehen. Je konkreter der gemeinsame Bildungsraum Europa wird, umso schwerer fällt es allerdings den Regierungspolitikern, einen Konsens zu finden.