Mäßiger Wind von Westen

Die Chancen der Prekären

»Schluss mit dem Klassenkampf!«, fordert Lothar Späth. Und die Zeit möchte die »Rechtsgrundlagen des Streiks« der Metaller im Osten in Frage stellen, »auch wenn die Gewerkschaften aufheulen mögen«. So modifiziert sich das deutsche Modell des sozialen Friedens, wenn die Krise durchschlägt. Dann wird in einen Streik der Klassenkrieg hineinhalluziniert, dann kommen autoritäre Vorschläge auf den Tisch. Diesen Ton hatte der Spiegel bereits im Mai ngeschlagen. Er schlug vor, die Verfassung autoritär zu überarbeiten, zur Auflösung des »Reformstaus«.

In Frankreich ist man noch nicht so weit. »Ein Reformwind bläst, aber noch nicht stark genug«, erklärte Ernest-Antoine Seillière, der Vorsitzende des Unternehmerverbandes Medef. Aber er sieht Fortschritte. Das Rentengesetz, das mehr Arbeit, aber weniger Rente bringt, dürfte das Parlament passieren.

Auch die Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung freut ihn. »Wir haben einen Reformsyndikalismus, der es akzeptiert, in Verhandlungen zu treten, der analysiert und die Situation erkennt, den Bereich des Möglichen feststellt und zur Reform beiträgt.« Damit meint er drei Gewerkschaften (CFDT, CFTC und CFE-CGC), die mittlerweile wie die deutschen funktionieren. Sie fühlen sich »verantwortlich« für die ganze Gesellschaft.

In Krisenzeiten führt das dazu, dass solche Gewerkschaften nicht mehr die Verteidigung der Arbeiterinteressen organisieren. Ihre Funktion als Makler der Ware Arbeitskraft, die Radikale immer kritisierten, weil Interessenpolitik für das variable Kapital den Kapitalismus nicht transzendiert, folgt dann den Marktgesetzen. Zu viel Arbeitskraft im Angebot? Dann muss der Preis für die Arbeitskraft eben sinken.

Zum Glück gibt es noch den »angelsächsischen Neoliberalismus«. Er erfüllt für die deutschen Gewerkschaften zwei Funktionen. Das Schimpfen über ihn ersetzt es, über die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus zu reden. Und der Teufel kann jederzeit an die Wand gemalt werden: Seht, Prekäre, working poor! Das blüht euch, wenn es keine Gewerkschaften wie uns gibt!

Dabei wächst die Zahl prekärer Arbeitsverhältnisse in allen kapitalistischen Ländern. Und die Prekären sind in der Regel nicht gewerkschaftlich organisiert. Dennoch finden sie sich in Frankreich derzeit zuammen und bestreiken den Kulturbetrieb. Vielleicht erschöpft sich ihr Kampf nicht in der Verteidigung ihrer Interessen, vielleicht entwickeln sie eine Kritik ihrer Arbeit, der Funktion der Kultur in der Ausbeutung.

Denn die neue »Unternehmenskultur« erfasst die ganze Gesellschaft. Wie es der Psychoanalytiker Eugène Enriquez ausdrückt, für den »das Unternehmen unter der Bedingung, dass es zugleich eine Gemeinschaft ist, (…) das heißt ein Ort, wo sich die Konflikte niemals auf das Wesentliche erstrecken und handhabbar sind, die Gesellschaft produziert, konstruiert, verändert und in großer Zahl nicht nur neue Produktions- und Konsummodelle einführt, sondern auch Modelle für die Ausarbeitung des Denkens und die Behandlung der Affekte«.

Erste Diskussionen darüber beginnen. Sie lassen sich nur gegen Gewerkschaften führen, die auf Produzentenstolz und Verantwortung setzen.